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Marco Büchel interviewt Ski-Legende Marie-Theres Nadig

«Niemand dachte, dass eine Frau Trainerin sein kann»

Sie hat ihn zum Skirennfahrer gemacht. Er hat von ihr Respekt gelernt. Zu ihrem 70. Geburtstag treffen sich Sapporo-Legende Marie-Theres «Maite» Nadig und SI-Kolumnist Marco «Büxi» Büchel zum Gespräch. Eine Begegnung voller Wertschätzung, Witz und Weisheit.

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Nase an Nase. Für viele Menschen vielleicht zu nah. Für Maite und Büxi eine Herausforderung – nicht laut loszulachen.

Kurt Reichenbach

Da ist sie, «d Maite», wie eh und je. Marco Büchel (52) nimmt Marie-Theres Nadig fest in die Arme, beide lachen, man spürt, sie freuen sich von ganzem Herzen, einander wiederzusehen. Wie sie wohl aussieht?, hat sich Büxi vorher gefragt. Ob sie immer noch diesen besonderen Draht zueinander haben? Er beginnt mit einer ersten Frage – sie tönt wie eine Liebeserklärung.

Marco «Büxi» Büchel: Wir kennen uns nun schon seit über 30 Jahren. Du warst meine Trainerin beim Liechtensteiner Skiverband, ich ein wilder 16-Jähriger. Du hast aus mir den Skifahrer gemacht, der ich viele Jahre lang war. Du hast mir die nötigen Werte, die Disziplin, den Ehrgeiz und den Anstand beigebracht. Ohne dich wäre ich nicht da, wo ich heute bin.

Marie-Theres «Maite» Nadig: Es freut mich, dass ich das fertiggebracht habe. Ich habe immer geschaut, dass ihr anständig seid, dass ihr schätzt, was ihr machen dürft. Wir haben hart trainiert. Doch es war auch immer Spass dabei. Jeder sollte seine Möglichkeiten ausschöpfen. Ihr wart ein bisschen meine Versuchskaninchen. Es dachte ja niemand, dass eine Frau das machen kann. Ich war eine Vorreiterin.

Büxi: Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Ich weiss noch, wie aufgeregt ich war. Es war eine tiefe Ehrfurcht da – eine Doppel-Olympiasiegerin, Gesamtweltcupsiegerin sollte meine Trainerin werden! Das war richtig gross für mich.

Maite: Natürlich erinnere ich mich. Ich bin mit meinem Subaru in Balzers angekommen, um mit euch Jungs ins Training zu fahren. Du warst heiser. Ich fragte, warum. Und du meintest, du wärst am Vorabend noch im «Roxy» gewesen, einer Bar. Du warst noch nicht mal volljährig. Deine Mutter hatte dich mitgeschleppt, und ich dachte, jesses, wo bin ich da hineingeraten (lacht herzlich).

 

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«Ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch», sagt Maite Nadig über sich selbst. «Auch wenn ich manchmal angeeckt bin.»

Kurt Reichenbach

Büxi: Du hast mich menschlich geformt. Ich war in jungen Jahren ziemlich «schlufig», hatte den Kopf nicht beieinander. Ich wollte auch nicht ums Verrecken Erfolg haben. Ich war ein bisschen der Paradiesvogel …

Maite: Ja, aber nur neben der Piste. Auf der Piste hattest du nicht so den grossen Trainingsehrgeiz. Du wolltest dich auch nicht aufdrängen. Skifahren war für mich immer Leidenschaft, und ich denke, ohne diese Leidenschaft kann man keine Rennen gewinnen. Die hast du mit der Zeit entwickelt.

Das Treffen mit der Schweizer Ski-Ikone, die 1972 mit Dölf Ogi und Bernhard Russi («Ogis Leute siegen heute») in Sapporo Geschichte geschrieben hat, findet in Flumserberg SG statt. Hier ist Maite aufgewachsen, hier lebt sie bis heute.

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Maite schlägt das «Mätz Dine» in Flumserberg SG als Treffpunkt vor. Das Lokal öffnet extra für sie und Büxi seine Pforten.

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Büxi: Maite, wenn dich jemand fragt, wer du bist und was du so machst – was antwortest du?

Maite: Dann sage ich, dass ich hier in Flumserberg verwurzelt bin. Und dass ich die Natur liebe.

Büxi: Zum Skisport und deinen Erfolgen sagst du nichts?

Maite: Nein. Obwohl ich mir natürlich bewusst bin, dass mich die Leute immer noch mit der Doppel-Olympiasiegerin identifizieren. Und mit meiner Stimme – die hat sich anscheinend auch eingeprägt (lacht).

Büxi: Bist du stolz auf deine Siege in der Abfahrt und im Riesenslalom?

Maite: In diesem kurzen Moment war ich die Schnellste. Einen Tag oder eine Stunde später wäre es vielleicht anders gekommen. Ich habe im Moment des Rennens mein bestes Können abgeliefert. Darauf kann ich sicher stolz sein. Aber nicht auf die Erfolge, das ist kein Ausweis. Ich definiere mich nicht darüber.

Büxi: Hast du spezielle Erinnerungen an Sapporo?

Maite: Die grosse Favoritin war damals Annemarie Pröll, die als unschlagbar galt. Vor den Spielen war ich mit meiner Familie im Kino. Wir haben uns «Herbie» angeschaut, einen Film über ein kleines Auto, das die grossen Boliden besiegte. Als ich auf der Piste unterwegs war, dachte ich immer an diesen Film. «Go, Herbie, go», habe ich mir innerlich zugerufen. Ich bin der kleine Käfer, die anderen sind die Boliden. Das ist mir noch sehr präsent. Vor allem, als Herbie die Boliden dann tatsächlich geschlagen hat (lacht herzlich).

ARCHIV - ZU DEN SCHWEIZER MEDAILLENGEWINNERN AN OLYMPISCHEN WINTERSPIELEN STELLEN WIR IHNEN EINE AUSWAHL AN ARCHIVBILDERN ZUR VERFUEGUNG - Marie-Theres Nadig (Schweiz) zeigt am 6. Februar 1972 bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo ihre Goldmedaille, die sie in der Abfahrt gewonnen hat. (KEYSTONE/EPU/Str)

Maite Nadig ist noch keine 18, als sie 1972 in Sapporo überraschend Olympia-Gold in der Abfahrt und im Riesenslalom gewinnt.

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Büxi: Du kamst aus Japan zurück und warst der grosse Star. Wie war das?

Maite: Sehr schwierig. Jede Handlung wurde kommentiert und als gut oder schlecht bewertet. Ich kam nach einer langen Reise nach Hause, hatte einen Kaugummi im Mund. Der Bundespräsident war da, um uns zu gratulieren. Ein Kameramann zielte voll auf meinen Kaugummi. «Das macht man doch nicht», hiess es dann. «Wenn der Präsident der Schweiz eine Ansprache hält, ist man doch seriös.»

1981 tritt Marie-Theres Nadig nach einer grossartigen Karriere zurück. Sportlich gesehen hat sie alles erreicht. Zweimal Olympia-Gold, Siege im Gesamtweltcup, im Abfahrtsweltcup und im Kombinationsweltcup. Danach ist sie Nachwuchstrainerin beim Liechtensteiner Skiverband und später Abfahrts- und Cheftrainerin bei den Schweizer Frauen.

Maite: Im Schweizerischen Skiverband hatte ich viel mehr Leute um mich herum, ich konnte delegieren. Obwohl das nicht meine Stärke ist (lacht). Ich arbeite gern selbst am Athleten. Probiere, ihn zu kennen. Ich kannte deine Mutter, Büxi, ich wusste, wie du aufgewachsen bist. Ich konnte mir ein Bild machen. Das war mir wichtig. Auch bei den Schweizer Abfahrerinnen habe ich jede einzelne zu Hause besucht. Ich wollte wissen, woher die Mädchen kommen. Ich kam von den Burschen zu den Frauen. Das war schon eine Umstellung. 

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«Es kann doch nicht sein, dass alles, was wir hier lernen, verloren ist»

Kurt Reichenbach

Büxi: Es lief aber nicht immer alles rund. Deine grösste Niederlage?

Maite: Ganz klar der Chefposten in der Schweiz. Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir drei Jahre hart arbeiten müssen, bevor sich der Erfolg einstellt. Als wir nach einem Jahr noch nicht gewonnen hatten, musste ich gehen. Ich war der Kopf der Mannschaft. Ich bin in die Mühlen der Sportpolitik geraten und hatte keine Lobby. Das war meine grösste persönliche Niederlage.

Büxi: Danach hast du deine Trainerkarriere beendet. Du warst über 50, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit alleinstehend. Hast du dir nie eine eigene Familie gewünscht?

Maite: Nein, ich habe nie davon geträumt. Eine Familie wäre mit meinem Beruf auch nicht zu vereinbaren gewesen. Ich hatte schon Bekanntschaften, Freundschaften, aber ich habe mich immer wieder dagegen entschieden. Vielleicht habe ich es auch nicht zugelassen. Ich konnte meine Leidenschaft für den Skisport nicht loslassen. Der Mann war wohl nicht so interessant wie die Arbeit mit den Athleten (lacht). Die Leute fragten dann, hast du denn lieber Frauen? Das kann ich nicht bejahen. Wenn eine Frau allein bleibt, kommt diese Frage schnell, und ich musste auch schon Stellung beziehen. Es stört mich nicht, aber man sollte nicht in Schubladen denken. 

Büxi: Und nun feierst du deinen 70. Geburtstag!

Maite: Ich merke, dass ich älter geworden bin. Allein schon an meinen Haaren, die sind nicht mehr so braun wie früher. Aber ich bin noch gut «binenand», vor allem im Kopf. Ich geniesse es, in meiner Freizeit Dinge zu tun, die ich früher nicht machen konnte. Tennis spielen, Freunde treffen. Ich bin frei. Ich habe so viel gelernt in all den Jahren. Heute bin ich reflektiert. Eine reife Frau.

Büxi: Würdest du ewig leben wollen?

Maite: Nein. Ich glaube aber auch nicht, dass mit dem Tod alles vorbei ist. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas danach kommt. Es kann doch nicht sein, dass alles, was wir hier auf Erden lernen, danach verloren ist.

Büxi: Ein sehr tröstlicher Gedanke …

Maite: Deswegen musst du jetzt noch ein guter Mensch sein. Damit du mit einem guten Karma weitergehen kannst (lacht herzlich).

Büxi: Wenn du alles, was dich ausmacht, all das Positive und Negative, oben in einen Trichter füllen würdest, was für ein Destillat käme unten heraus?

Maite: Ich kann jetzt wohl nicht sagen «Scheisse» (lacht laut). Okay, Kompost vielleicht? Ein guter Kompost, und davon mehr als eine Handvoll.

 
Text: Nadine Gerber am 8. März 2024 - 16:11 Uhr