Auf dem Fenstersims stehen Orchideen, auf dem Couchtisch bereits gefüllte Wassergläser: Das Büro von Térence Billeter im Bundeshaus West wirkt hell und einladend – und passt damit perfekt zum Jobprofil des 55-jährigen Diplomaten aus Genf. Billeters Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich die Gäste an internationalen Konferenzen wohlfühlen. Das tönt banal, ist aber höchst kompliziert.
Herr Botschafter Billeter, als Protokollchef waren Sie auf dem Bürgenstock für das Drehbuch zuständig. Warum ist es wichtig, alles bis ins Detail zu regeln?
Térence Billeter: Ohne Protokoll droht Chaos. Dann wissen die Delegationsteilnehmer nicht, wer zuerst einen Raum betreten darf, wer als Erster spricht, wer wo sitzt. Und wenn sie sich mit solchen Fragen beschäftigen müssen, können sie sich nicht mehr auf den Inhalt fokussieren. Das Protokoll schafft einen vorhersehbaren Rahmen. Es beruhigt.
Wie viele E-Mails brauchte es, bis alles organisiert war?
Es waren sicher mehrere Tausend und Tausende von Telefonaten. Hinzu kamen mehrere Hundert Arbeitstreffen. Je näher die Konferenz rückte, desto verrückter wurde es. In den letzten Nächten habe ich nur noch wenige Stunden geschlafen. Dabei bin ich eigentlich jemand, der viel Schlaf braucht. Da war ich im Ausnahmezustand.
Sind Sie ein Held?
Ich habe nur meine Arbeit gemacht.
Wie würden Sie einem Kind in wenigen Sätzen erklären, worin diese besteht?
Nehmen wir an, das Kind lebt in einem Hochhaus. Nachbarn müssen vieles untereinander regeln: Wo darf geraucht werden? Wie viel Lärm ist in Ordnung? Wer kümmert sich um die Reinigung? Manchmal gibt es Unstimmigkeiten. Und da kann man sich entweder bekriegen. Oder man kann miteinander sprechen. Das ist Diplomatie: Man lädt einander zum Kaffee ein, um das Problem zu besprechen. Wie und wo man den Kaffee offeriert, das regelt das Protokoll. Und dafür bin ich zuständig.
Was gab es beim Dinner an der Ukraine-Konferenz zu essen?
Zur Vorspeise Saibling aus der Schweiz und für die Vegetarier geräucherte Karotten. Zur Hauptspeise Kalbfleisch oder Sellerie im Blätterteigmantel. Zum Dessert wurden Meringues mit Erdbeeren und Doppelrahm gereicht.
Warum gerade dieses Menü?
Wir bemühen uns immer, etwas Schweizerisches anzubieten, das möglichst lokal produziert wurde. Im Vorfeld hatten wir ein Testessen auf dem Bürgenstock mit zwei, drei Varianten, und dann entschieden wir uns für dieses Menü.
Wer durfte neben wem sitzen?
Am Haupttisch sassen Bundespräsidentin Viola Amherd und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sowie die ranghöchsten Konferenzteilnehmer. Um den Haupttisch herum wurden die übrigen Tische gruppiert. Für die Sitzordnung gibt es klare Regeln: Je ranghöher ein Teilnehmer, desto näher darf er oder sie am Haupttisch sitzen. Innerhalb des gleichen Rangs erhält die dienstältere Person den besseren Platz. So weit die Theorie.
Und in der Realität?
In der Realität merkt man dann, dass es so nicht immer geht: Dass zum Beispiel zwei Personen nebeneinander sitzen würden, die keine gemeinsame Sprache sprechen. Oder zwei Regierungschefs von Ländern, deren Beziehung schlecht ist.
«Manche Staatschefs sind eitel, aber überraschend wenige»
Térence Billeter
Gab es solche Situationen an der Bürgenstock-Konferenz?
Nicht beim Dinner. Aber im Plenarsaal, wo die Verhandlungen stattfanden, da gab es das Problem, dass zwei Länder nicht nebeneinander sitzen konnten.
Welche Länder waren das?
Das darf ich nicht sagen.
Am Radio habe ich gehört, dass am ersten Konferenztag plötzlich zwei afrikanische Delegationen aufgetaucht sind, die gar nicht angemeldet waren. Wie meistert man so eine Situation?
Es waren zum Glück keine riesigen Delegationen. Wir haben ihnen gesagt, dass wir so kurzfristig keine Übernachtungsmöglichkeit organisieren können. Alles war voll. Sie mussten sich selbst ein Hotel suchen. Die Schweiz hat ihnen aber Badges und Fahrzeuge für den Transport zur Konferenz zur Verfügung gestellt. Sie haben verstanden, dass wir uns so kurzfristig nicht um alles kümmern konnten, und waren dankbar für die Flexibilität.
Wann war der Moment, als Sie dachten, jetzt kommt es gut?
Sobald die Schlussplenarsitzung am zweiten Tag angefangen hatte. Da wusste ich: Mindestens aus protokollarischer Sicht kann wohl nichts mehr schiefgehen. Wirklich entspannen konnte ich aber erst, als alle Delegationen abgereist waren.
Warum wurden Sie Diplomat?
Aus Neugier auf die Welt. Ich bin selbst zwischen zwei Kulturen aufgewachsen. Meine Mutter war Chinesin und mein Vater ist Schweizer.
Hat nicht das Schweizer Fernsehen Sie mit dem chinesischen Premierminister verwechselt?
Doch, das war im Januar, beim offiziellen Besuch von Li Qiang in Bern. In der «Tagesschau» wurde ich als chinesischer Premierminister bezeichnet. Das hat mich amüsiert.
Was fasziniert Sie an Ihrer Rolle?
Obwohl man nicht für den Inhalt zuständig ist, ist man sehr nahe dran an dem, was auf der diplomatischen Ebene geschieht. Das finde ich spannend. So ein Job ist vielleicht nicht jedermanns Sache, man muss schon einen ausgeprägten Sinn fürs Organisatorische und die Symbolik des Staates haben. Mir sind diese Dinge wichtig. Gerade in Zeiten, wo der Populismus auf dem Vormarsch ist und Institutionen infrage gestellt werden.
Stört es Sie nicht, immer im Hintergrund zu sein?
Im Gegenteil. Ich finde das angenehm, dafür zu sorgen, dass andere im Vordergrund stehen können.
Sind Staatschefs eitel?
Manche schon, aber überraschend wenige. Es ist oft eher die Entourage, die kompliziert ist. Oft ist es schwieriger, mit der Entourage zu arbeiten als mit dem Staatsoberhaupt selbst.
Bleibt das Protokoll eigentlich immer gleich?
Nein, das Protokoll passt sich den gesellschaftlichen Entwicklungen an, es entwickelt sich ständig weiter.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Vor 40 Jahren wäre nie auf einer Einladung gestanden «Herr Botschafter und sein Ehemann». Heute ist Homosexualität breit akzeptiert, und wir schreiben das ohne Probleme.
Welche Veränderungen erwarten Sie in Zukunft?
Ich kann mir gut vorstellen, dass in ein paar Jahren das dritte Geschlecht zum Thema wird. Momentan arbeiten wir mit «Mann» und «Frau», in Zukunft wird das vielleicht anders sein.
Zurück zur Bürgenstock-Konferenz: Neben viel Lob gab es auch Kritik. Es hiess, ohne die Teilnahme Russlands sei der Effort umsonst. Was ist Ihre Meinung: War die Konferenz ein Erfolg?
Dass Russland nicht teilgenommen hat, ist bedauernswert. Um einen Krieg zu beenden, muss man mit allen Parteien sprechen. Das hat die Schweiz immer gesagt. Trotzdem bin ich überzeugt: Die Schweiz hat ihre Rolle als Brückenbauerin gespielt mit dem Ziel, einen nachhaltigen und dauerhaften Frieden in der Ukraine zu erreichen. Wir werden sehen, ob in 20 Jahren in den Geschichtsbüchern die Bürgenstock-Konferenz erwähnt wird. Ich denke schon.