Wer Rebecca Annies in ihrer 2,5-Zimmer-Dachwohnung in Zürich Wiedikon besucht, sieht zuerst mal viel leeren Platz. Dass im Wohnzimmer kein grosser Esstisch steht, hat einen Grund: Hier befindet sich die persönliche Breakdance-Übungsfläche der 37-Jährigen. «Mein Zuhause inspiriert mich zu neuen Moves.»
Annies ist die beste Breakdancerin der Schweiz. Kommende Woche reist das B-Girl, wie sich die Frauen in der Szene nennen, nach Paris. Dort will «Becca» am renommierten BC-One-Wettbewerb einen Platz für den Final im Tennisstadion Roland Garros ertanzen.
Zugleich ist sie in der Qualifikationsphase für die Olympischen Spiele, welche 2024 ebenfalls in Frankreichs Metropole stattfinden. Breaking, so der offizielle Name, ist dort neue Disziplin. «Anfangs war ich skeptisch, weil Breaking für mich eine Kunstform ist, die sich nicht leicht in ein Bewertungsschema pressen lässt. Olympia gibt uns aber neue Möglichkeiten und hat mich sehr motiviert.»
Die Stadtzürcherin kommt als Teenager zum ersten Mal mit der dynamischen und akrobatischen Tanzform in Berührung. Einige Jahre zuvor ist Breakdance als Teil der Hip-Hop-Kultur von New York nach Europa rübergeschwappt. Die Freunde der Gymnasiastin fahren Skateboard und breaken zu Hip-Hop-Beats.
Auch sie fühlt sich in der Kultur zu Hause – bis heute. Davon zeugt ein Kunstwerk im Street-Art-Stil und ein Skateboard mit dem Konterfei von Soulsängerin Nina Simone an der Wohnzimmerwand. «Breaking liess mich nicht mehr los, weil ich dadurch mit so vielen anderen Menschen auf der Welt in Verbindung bin. Es ist, als würden wir die gleiche Sprache sprechen.»
Richtig durchgestartet ist Rebecca Annies aber erst nach ihrem ETH-Architekturstudium. «Da war ich mega motiviert, mich voll reinzuknien.» Heute trainiert sie vier- bis fünfmal pro Woche jeweils zwei bis drei Stunden, entweder zu Hause oder im Jugendkulturhaus Dynamo.
Sie ist Mitglied des 2019 gegründeten zehnköpfigen Swiss-Breaking-Teams. Das ermöglicht ihr zusätzliches Krafttraining, Zugang zur Physiotherapie und mehrmals im Jahr Coachings von der kalifornischen B-Boy-Legende «RoxRite». «Während die jüngere Generation eher an Trainer gewöhnt ist, war das für mich neu – und gab mir einen Schub.» Die Disziplin für das harte Training habe sie auch von ihrem Vater. Dieser spielte intensiv Basketball, war Coach der Schweizer Rollstuhl-Nationalmannschaft.
Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Spanien oder Frankreich, wo Athletinnen dank dem Sponsoring von Nike und Co. vom Breaking leben können, arbeitet Annies zwischen 60 und 70 Prozent als Architektin mit Fokus auf Interior Design.
So betreute sie als Bauleiterin das Redesign der Büros eines grossen Krankenversicherers oder entwarf die Belmondo-Bar in Zürich Wipkingen. «Für mich ist der Job als Innenarchitektin der perfekte Ausgleich», erzählt sie beim Besuch des «Belmondo», während ihr Freund und Bar-Besitzer Alvaro am geschwungenen Tresen aus Beton einen Kaffee brüht. Zudem gebe es Parallelen zum Breaken, wo man auch aus verschiedenen Moves ein Ganzes formt und manchmal ums Eck denken müsse.
«Viel über mich selber gelernt»
Beim Gespräch über die marokkanischen Fliesen, die sie für die Bar ausgesucht hat, wirkt Rebecca Annies zurückhaltend, fast schon scheu. Ihre Körperhaltung verändert sich aber, sobald sie beim Tanztraining im Dynamo ihre breiten Trainerhosen anzieht und die blonden Haare unter die Wollkappe steckt.
Sie hält die Arme weg vom Körper, nimmt damit den Raum ein, der Blick ist fokussiert. Sie fängt an, sich im Takt der Beats zu bewegen – Toprocking, wie Breakdancer die einleitenden Schritte nennen. Um dann blitzschnell und geschmeidig mit einem Kniefall runter auf den Boden zu wechseln und mit der nächsten Bewegung sich mit den Beinen hochzustossen und auf einem Arm zu balancieren – im Breakdance-Slogan «freezen».
Dann löst sie sich aus der Bewegung, strahlt. «Beim Breaking habe ich viel über mich gelernt. Es gibt mir Selbstbewusstsein.»
Ihr Crewkollege Nano schwärmt von Beccas individuellem Stil, den Details wie der Haltung der Hände oder der ausgeklügelten Fussarbeit. «Wie beim Skaten oder Surfen ist es eine wichtige Qualität beim Breaking, einen eigenen Stil zu haben», sagt Annies.Deshalb sei es auch möglich, dass in einem Weltklasse-Battle, wo zwei Tänzerinnen gegeneinander antreten, die eine 41 und die andere 16 Jahre alt ist. «In meinem Alter muss ich aber mehr in meinen Körper investieren. Länger dehnen, mehr Yoga machen.»
Annies ist überzeugt, dass Olympia rund um die Sportart nochmals einen Boom auslöst. «Was die jüngere Generation heute schon kann, ist Wahnsinn.» Vorbild sind für Annies aber auch jene B-Girls, die als Mamis weiter auf Topniveau breaken. Auch sie wünscht sich in Zukunft eine Familie. Doch vorerst steht die Olympia-Quali an. Dafür wird Becca noch einige Stunden zu Hause üben.