Beat Richner war ein fröhliches Kind, dem es an nichts fehlte. Geboren am 13. März 1947 als viertes Kind von Theophil und Hildegard Richner, hatte er das Glück, am Zürichberg in der Umgebung einer Zürcher Lehrerfamilie aufzuwachsen. Er liebte und verehrte seine Eltern, er rief sie jeden Tag an, bis zu ihrem Tod. Schon als Kleinkind war er beliebt, nicht nur zu Hause. Mit seinen blonden Locken und den blauen Augen bekam er viele Komplimente; in Italien, wo die Familie gerne die Ferien verbrachte, riefen die Leute: «Oh, che carino!» – wie herzig, dieser Kleine.
Der junge Beat Richner fiel auf, weil sein blonder Lockenkopf auf dem kleinen Körper relativ gross wirkte. Als Vierjähriger fuhr er mit seiner Mutter im Tram Nummer 10 durch Zürich, dabei kam es zu einer Szene, die er in seinem Buch «Ambassador» schildert: «Nach der Haltestelle Stockerstrasse (ich sehe das heute noch vor mir) sagte eine Frau im Abteil nebenan mit einem Blick auf mich: ‹Um Himmels willen, hat das Kind einen grossen Kopf !› Meine Mutter war fassungslos, doch ich sagte zu dieser Frau: ‹Dumme Kuh, ich habe eine grosse Dänki!› Im Tram wurde es erst ruhig, dann lachten alle.»
Beat Richner gehörte nicht zu jenen Menschen, die wegen einer entbehrungsreichen Kindheit das Bedürfnis haben könnten, eine tief sitzende Frustration mit guten Taten zu kompensieren. Im Gegenteil: Wir dürfen vielmehr annehmen, dass er sich schon als Knirps wünschte, dass es allen ebenso gut geht wie ihm, der nicht begreifen konnte, dass es Kinder gibt, die nicht das gleiche Recht auf Liebe und Gesundheit haben wie er.
Mutter Hildegard war Primarlehrerin, zunächst in Appenzell in einem Kinderheim, nach der Heirat und während des Krieges, als die Frauen für die dienstleistenden Männer einspringen mussten, als Stellvertreterin an verschiedenen Orten.
Lesen, Singen und gemeinsames Musizieren waren bei Richners selbstverständlich, alle Kinder durften ein Instrument erlernen, zuerst gabs für alle ein Jahr Blockflöte, ausser für Beat, dann konnte jedes mit neun bis zehn Jahren ein schwierigeres Instrument wählen: Geige, Cello oder Klavier. Christian wählte das Klavier, Katharina die Bratsche, Annaregula die Geige und Beat das Cello.
Wie selbstverständlich verlief auch die Schulkarriere der vier Richner-Kinder, man ging ins Gymi und an die Universität. «Wir mussten super sein», erinnert sich Schwester Katharina. «Vater sagte uns: ‹Ihr verlasst die Universität nicht ohne Doktortitel!›» Die Kinder bildeten altersmässig je ein Pärchen, der älteste Bruder Christian studierte Jus, die fast gleichaltrige Schwester Annaregula wurde Kinderärztin, und die beiden drei bis vier Jahre jüngeren wurden auch Mediziner: Katharina Augenärztin, Beat Kinderarzt. Allerdings erst nach einer kurzen und intensiven Karriere als Cellist und Musikclown.
Beat «war schon etwas speziell», sagen seine Schwestern. Er ging nicht in den Kindergarten, spielte lieber zu Hause mit Schwester Katharina. «Wir waren wie ein Zwillingspärchen, fast gleich alt, wir hatten im Haus eine Werkstatt und ein Spielzimmer, er hat den Ton angegeben, stets entschieden, was wir machten. Sehr oft spielten wir Kinderspital, ich war die Krankenschwester, er der Arzt, beide weiss gekleidet wie richtiges Spitalpersonal, die Puppen waren die Patienten, wir konnten tagelang Kinderspital spielen.» Ein Bekannter der Familie war Kinderarzt und ein Onkel Landarzt, das «Dökterlen» lag also in der Luft.
Die Richner-Kinder waren stets in Bewegung, trieben aber keine speziellen Sportarten, der lange Schulweg reichte als tägliches Training. Zweimal pro Jahr fuhren sie mit den Eltern ins Schullager, im Sommer und im Winter. Dort lernten sie Ski fahren.
Beat hatte als Schüler keine Mühe, aber sehr fleissig war er nicht, alles ging ihm leicht von der Hand. So tat er nur das Nötigste, wie viele intelligente Kinder. Von Orthografie hielt er nicht viel, wie eine Anekdote zeigt: Als Beat in die vierte Klasse ging, erhielt sein Vater ein «Schrecktelefon», wie Annaregula weiss. «Beat kommt nicht ins Gymi, er hat bei einem Diktat 25 Fehler gemacht!», sagte der Lehrer. Als der Vater Beat deswegen ermahnte, habe dieser nur gesagt: «Er hat ja verstanden, was ich geschrieben habe.» Vielleicht lag es an seiner Legasthenie, vielleicht hat er die Schule nicht so ernst genommen. Oder die Schule genügte ganz einfach seinen persönlichen Ansprüchen nicht. Es fehlte in der Schule das, was er «das Gemüthafte» nannte.
Als junger Arzt mit eigener Praxis, der nebenbei als Beatocello auftrat, schrieb er in einem Text zur Frage «Warum ich spiele?» ein paar Sätze, die viel über den jungen Beat Richner aussagen: «Im dritten Gymnasium wollte ich gar die Schule verlassen, um mich ganz der Musik widmen zu können. Ich erinnere mich, dass ich mich immer wieder fragte, ob durch die Schule das Gemüthafte nicht zu kurz komme, ob das gemüthafte, kreative Vermögen nicht Schaden erleide, ob das Gemüt durch das Lernen und das verstandesmässige Erfahren von Zusammenhängen nicht absterbe. Ich glaube, meine Empfindungen damals waren nicht falsch.»
Was allen auffiel: Er war nicht auf den Mund gefallen. «E fräche Siech», fanden Mitschüler, weil er immer geradeheraus sagte, was er dachte. Schon damals habe er eigentlich nur einen Fehler gehabt: «Ein Diplomat war er nicht. Das war krass bei ihm», erinnert sich Katharina. Dafür strahlte Beat eine natürliche Autorität aus: «Er war der Jüngste, aber schon als Kind hatte er das Sagen in der Familie», sagt Katharina. «Er traf schon als Dreijähriger den Nagel auf den Kopf.»
Beat hatte es gerne bequem, er sei gar nicht gerne marschiert in den Ferien, sagt Annaregula, schon als kleiner Junge wollte er lieber Auto fahren. Eines frühen Morgens sei er ins Schlafzimmer der Eltern gestürmt und habe gefragt: «Wann kaufen wir endlich ein Auto?» Das hatte einen aktuellen Grund: Der Vater hatte einen Renault Heck Probe gefahren und zum Verdruss von Beat wieder zurückgegeben. Später kaufte er dann einen Volkswagen mit abrollbarem Stoffdach. Das gefiel Beat sehr, er blieb sein Leben lang ein Autofan; Katharina erinnert sich, dass er auf dem Schulweg jede Automarke nennen konnte.
Bevor er nach Kambodscha ging, hatte er noch ein Mercedes-Coupé bestellt, das er wieder abbestellen musste, was ihn offenbar so gereut hat, dass er es immer wieder in Interviews erwähnte.
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Zum Glück hatte er im ersten Schuljahr eine Lehrerin, die ihm alle Extravaganzen durchliess. Zum Beispiel brachte er mehrere Stoffigel von Steiff mit, stellte sie vorne aufs Pult und wünschte, dass die Igel auch Rechnungsaufgaben kriegten. Sie hat das Spiel mitgemacht und offenbar erkannt, dass man dieses originelle Kind einfach machen lassen musste, dass er einer war, der alles eher spielerisch nimmt und nicht primär an Leistung und Noten interessiert war.
Als Erstklässler hatte Beat Richner ein interessantes Hobby. Er sammelte Briefmarken, schrieb die ganze Verwandtschaft und alle seine Bekannten an und bat sie, ihm Briefmarken für seine Sammlung zu schicken. Sein erster Brief lautete: «Ich sammle Briefmarken, ich habe schon drei.» Doch bald hatte er mehrere Alben voll, auch mit vielen Erstausgaben. Einige Jahre später verkaufte er dann seine grosse Briefmarkensammlung, um mit dem Erlös ein Cello zu kaufen.
«Beat ging gerne zur Schule, er hatte einen langen Schulweg und trödelte mit Freude, zum Beispiel blieb er vor der Baracke der Strassenwischer gleich gegenüber dem Schulhaus stehen und redete längere Zeit mit den Strassenwischern, wollte alles wissen. Er fand immer sofort einen direkten Draht zu den Leuten», erinnert sich Annaregula.
So auch, wenn Besuch kam. Kaum konnte er sprechen, rief er schon auf dem Weg vom dritten Stock ins Parterre: «Wie viel verdienen Sie?» und «Was machen Sie von Beruf?» Das wollte er ganz genau wissen. Er wusste, dass Geld wichtig war. Wenn er gefragt wurde, was er denn selbst werden wolle, sagte er: «Bankier!» Warum? «Wenn man kein Geld hat, kann man auch keines geben.» Katharinas Götti, ein Pfadfinderfreund des Vaters, war Bankier. Der vierjährige Beat wusste also, wovon er sprach.
Geld war für ihn wichtig, aber nicht zum Haben, sondern zum Geben. Der Mutter versprach er: «Wenn ich gross bin, kaufe ich dir ein Postauto.»
Nach der Matura wusste Beat zunächst nicht, was er studieren sollte und ob er überhaupt an die Uni gehen wollte. Die Musik war sein Leben, zumal er während der Gymizeit schon grosse Fortschritte machte. Der Rektor des Realgymnasiums, Willy Hardmeier, Physiklehrer, Präsident der Tonhalle-Gesellschaft und Dirigent des Schülerorchesters, nahm ihn sogleich ins Orchester auf. Und wie es seinem Naturell entsprach, kandidierte Beat Richner gleich als Präsident des Orchesters, wurde gewählt, verliess das Amt aber nach kurzer Zeit, weil ihm die administrative Arbeit nicht in den Kram passte.
Schon in der fünften Gymnasiumsklasse besuchte er die Meisterkurse des grossen Cellisten Enrico Mainardi in Luzern anlässlich der Musikfestwochen. Mainardi fand, Richner habe das Zeug zum Celloprofi, und gewährte ihm Privatstunden, allerdings musste Beat dafür herumreisen, denn der Meister trat als Solist abwechselnd in grossen Städten wie München oder Köln auf und empfing seine Privatschüler in einer Hotelsuite.
Zum Beispiel im Hotel Vier Jahreszeiten in München, wo Beat vom Portier aufgehalten wurde, als er sich mit dem Cellokasten durch die gläserne Drehtür zwängte: «Das machen wir schon, ich bringe das Instrument gleich hoch zum Maestro.» – «Er dachte, ich sei der Bote eines Musikgeschäfts, das am Cello des berühmten Cellisten eine Regulierung vorgenommen hatte», erzählt Richner in seinem Buch «Ambassador»: «Es war offenkundig, dass mein Aufzug nicht den ‹Vier Jahreszeiten› entsprach. So kaufte ich mir einen eleganten schwarzen Hut, einen ähnlichen, wie ihn der Maestro und seine Begleiterin Sela trugen, einen Mayser-Hut. Beim nächsten Mal konnte ich problemlos die Passage vor der Portierloge direkt zum Lift passieren. Dieser Hut hat mir in meinen Jahren als Kabarettist gute Dienste erwiesen.»