Noch etwas verschlafen schnürt Petra Gössi (47) morgens um 3.15 Uhr auf der Ibergeregg ihre Wanderschuhe. Ausser dem Glöckeln der Kühe ist es still, ein lauwarmes Lüftchen weht über den Pass auf 1406 Metern Höhe, der die Ortschaften Schwyz und Oberiberg miteinander verbindet.
Gössi blickt in den Himmel. «Schauen Sie die Sterne – schöner als in der Stadt, oder?» Sie schaltet die Stirnlampe an und läuft los.
Rund zwei Jahre ist es her, dass Gössi ihr Amt als Parteipräsidentin der FDP Schweiz an den Nagel hängte. Damals freute sich die Schwyzerin auf weniger Druck und mehr Privatleben. «Das Amt ist ein Verschleissjob, ständig ist man auf Achse und muss über alles Bescheid wissen», sagte sie damals der Schweizer Illustrierten.
Heute könne sie problemlos am Wochenende das Handy ausschalten oder die Sommerferien mit ihrem Partner und Freunden in der Toskana geniessen. «Das gibt schon eine andere Lebensqualität – auch wenn ich sehr gerne Parteipräsidentin war, weil ich an vorderster Front gestalten konnte.»
«Jetzt gehts obsi!» Von der Holzegg führt ein Serpentinenweg auf den Grossen Mythen. 47 Kehren und 550 Höhenmeter sind es auf den Gipfel des «Matterhorns der Wanderer». «Wer Müüthen sagt, outet sich übrigens sofort als Auswärtiger – hier in der Region heisst das Miiithen», sagt Gössi und lacht.
Mit sicherem, aber nicht zu schnellem Schritt steigt sie den steilen Weg hoch. Der Wind hat aufgedreht, langsam beginnt es zu dämmern. Über 40 000 Menschen besteigen den nach allen Seiten frei stehenden Berg pro Jahr. Gössi absolviert die rund zweistündige Wanderung mindestens einmal pro Saison. «Der Sonnenaufgang ist hier jedes Mal aufs Neue unglaublich schön.»
Selbst in Bundesbern muss Gössi nicht auf die Berge ihrer Heimat verzichten. So zieren der Grosse und der Kleine Mythen das Wandgemälde im Nationalratssaal. Dennoch will die Politikerin im Herbst einen Tapetenwechsel – sie kandidiert für den Ständerat. «Das wird ein Hosenlupf.» Denn der frei werdende Sitz von SVP-Mann Alex Kuprecht ist heiss begehrt.
Sie wäre die erste Frau, die ihren Kanton im Stöckli vertritt. «Klar wäre das eine Ehre, aber das Geschlecht soll kein Kriterium sein.» Vielmehr gehe es ihr darum, ihre Erfahrungen und ihr breites Netzwerk ganz für den Kanton Schwyz einzusetzen.
Es ist 5.30 Uhr. Kurz vor dem Gipfel entdeckt Gössi auf dem stotzigen Gelände ein Gemschi mit ihrem Kleinen. «Das sind noch Herausforderungen, da erscheinen unsere Probleme klein.» Genau dies mag die Politikerin am Wandern. «Es erdet – und wenn ich auf dem Gipfel stehe, habe ich eine andere Sicht auf die Dinge.» Sagts und erklimmt die letzten Meter auf die Bergspitze auf 1898 Metern über Meer.
So oft wie möglich geht Gössi wandern. Am liebsten auf die Rigi, ihren Hausberg, an dessen Fusse sie in Küssnacht in einer Wohnung unter dem Dach wohnt. «An die Hitze im Sommer hab ich mich gewöhnt.» Ihr Partner, der Psychiater Joe Hättenschwiler, arbeitet und lebt in Zürich. Gössi ist dort als selbstständige Strategieberaterin tätig.
Am Wochenende sind die beiden meist in Schwyz. «Durch mich hat er das Wandern entdeckt. Er hat mich sogar dazu gebracht, mehrere Viertausender zu besteigen.» Obwohl sie seit fünf Jahren ein Paar sind – gemeinsame Bilder gibt es keine.
«Ich verstecke ihn nicht, wir gehen zusammen oft an Anlässe wie das Schwingfest oder den Zunftball.» Doch da auch er sehr bekannt ist, möchten sie ihr Privatleben schützen.
Nun ist es so weit. Wie eine Feuerkugel erhebt sich die Sonne am Horizont. Dazu lässt Hüttenwart Werni Ruhstaller die Schweizer Hymne laufen. «Das ist jetzt schon cool», sagt Gössi, zückt ihr Handy – und schickt das Bild ihrem Partner. «Der wird wohl noch nicht wach sein.» Kaum steht die Sonne über dem Horizont, wirft der Mythen seinen langen, spitzen Schatten bis nach Seelisberg auf der anderen Seite des Vierwaldstättersees.
Gössi bestellt einen Nussgipfel und einen Hagebuttentee – entscheidet sich dann um für einen Grüntee. «Diese Politiker! Immer im letzten Augenblick eine Finte schlagen», sagt Ruhstaller und lacht. «Übrigens, Petra, die 1.-August-Rede – machst dus nächstes Jahr? – «Ja, wieso nicht!»
Gössi setzt sich an den Tisch zu Werni, dessen Partnerin Annagreth Schuler und Armin Schelbert, der lebenden Mythen-Legende. Über 6000-mal hat der 79-Jährige den Gipfel bereits erklommen – trotz künstlichem Kniegelenk. «Man muss etwas machen im Alter», sagt er.
Derweil will Gössi vom Hüttenwart wissen: «Was macht ihr eigentlich, wenn es hier oben chutet?» – «Dann kommt Annagreth mir ganz nahe.» Der Tisch grölt.
Gössi schaut auf die Uhr: «Schon halb acht. Gehen wir nitzi!» Beim Abstieg laufen ihr erste Schweisstropfen übers Gesicht. «Ich bin gespannt, ob das Wetter diesen Sommer das politische Klima beeinflusst.»
Als Parteipräsidentin hat Gössi den Klimawandel auf die politische Agenda der FDP gebracht – nicht zur Freude aller. «Das Klima sollte nicht zum Kernthema werden, aber ich wollte liberale Lösungen. Dass die Mitglieder bis heute daran festhalten, freut mich sehr.»
Für den Wahlherbst sieht sie bei ihrer Partei, die laut Umfragen an Stimmen verliert, Luft nach oben – oder wie sie es formuliert: «Wir müssen uns ins Füdle klemmen.» Dabei würden Themen, bei denen die FDP punkten könne, etwa der Fachkräftemangel oder die Teuerung, in der Luft liegen.
Zurück im Tal, der erste Gähner. Gehts jetzt ins Bett? «Nein, zur Arbeit!» Zum Schluss muss die Frage sein: Ist Gössis politisch höchster Gipfel der Bundesrat? «Ein Aufstieg nach dem anderen. Zuerst gehts nun hoffentlich ins Stöckli.»