Fast 15'000 Stellen sind in der Pflege schweizweit unbesetzt – so viele wie noch nie! Die Folgen sind dramatisch: Notfallstationen werden geschlossen, Betten abgebaut, Operationen verschoben. Die Pflegenden stehen unter Dauerdruck. Einer davon ist Patrick Hässig (43). Seit sechs Jahren arbeitet er als Pflegefachmann im Stadtspital Waid in Zürich. Davor erlangte er als Radio- und Fernsehmoderator nationale Bekanntheit. Spritze statt Mikrofon, Schragen statt Studio. «Ich habe mir den Wechsel lange überlegt», sagt er. Aktuell hat er ein 50-Prozent-Pensum inne. «Ich ziehe vor allen den Hut, die Vollzeit im Spital arbeiten.»
Herr Hässig, in den Spitälern herrscht seit Monaten Pflegenotstand. Mit welchem Gefühl gehen Sie morgens zur Arbeit?
Mit einem guten! Ich habe nach wie vor sehr Freude an meinem Beruf. Aber was stimmt: Wir haben ständig eine Hand zu wenig und müssen Abstriche machen.
Was kommt zu kurz?
Zeit, in der Patientinnen und Patienten sagen können, wie es ihnen wirklich geht, und sich wohl- und ernst genommen fühlen. In solchen Gesprächen erfahren wir enorm viel, was für die weitere Behandlung wichtig ist. Zwar warten die Patienten immer auf den Arzt. Aber dieser ist nach zehn Minuten wieder weg – die restlichen 23 Stunden und 50 Minuten ist vor allem die Pflege da. Was nicht sein darf, ist, dass Patienten Sätze sagen wie: «Ich klingle besser nicht, weil ich Sie nicht stören will.» Das ist lieb gemeint, aber wer im Krankenbett liegt und etwas braucht, der muss klingeln.
Gibts Tage, an denen Sie nicht zur Toilette gehen können?
Ja, die gibt es. Aber ich versuche, meine Pausen einzuhalten. Und das gelingt mir ziemlich gut, weil ich kein schlechtes Gewissen habe, wenn ein Patient einmal etwas länger warten muss. Pausen sind wichtig und beugen Fehlern vor! Aber viele Pflegende sind sehr selbstlos und neigen dazu, sich zu verausgaben. Sie vervollständigen die Krankenakten am Feierabend oder wechseln einen Verband, obwohl ihre Schicht längst zu Ende ist. Genau das nagt und erschöpft auf Dauer.
Aber viele Pflegekräfte fühlen sich dazu verpflichtet …
Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, dass Pflegende pflichtbewusst arbeiten. Aber dies darf nicht auf Kosten ihrer Gesundheit geschehen. Man muss auch mal sagen können: Jetzt ist genug!
Warum gelingt Ihnen das – und anderen nicht?
Weil ich mir immer wieder sage: Ich bin nicht mit meinem Arbeitgeber verheiratet. Die Patienten sind das Wichtigste für mich, alles andere kann warten. Ausserdem, wer engagiert und pflichtbewusst arbeitet, muss keine Angst vor Konsequenzen haben. Aber ich spüre diese Angst manchmal bei anderen. Diese möchte ich ermutigen: Sagt, wenn euch etwas stört, getraut euch! Und macht euch bewusst: Ihr werdet immer einen Job finden – das ist das Privileg unseres Berufsstands. Darum können und müssen wir unsere Stärke zeigen.
In den sozialen Medien machen Sie immer wieder auf den Pflegenotstand aufmerksam. Fühlen Sie sich dazu verpflichtet, weil Sie durch Ihren früheren Job als Radio- und TV-Moderator national bekannt sind und eher gehört werden?
Vielleicht ein bisschen, ja. Während der Abstimmung zur Pflegeinitiative habe ich mich stark exponiert. Die zahlreichen Feedbacks zeigten mir, wie froh viele Kolleginnen und Kollegen waren, dass sich endlich jemand traut, etwas zu sagen.
Über Instagram erhalten Sie zahlreiche Nachrichten von anderen Pflegenden. Welche hat Sie besonders berührt?
Eine vierfache Mutter schrieb mir, sie habe eine 40-Prozent-Stelle in der Pflege angenommen und nach acht Monaten über 100 Überstunden aufgebaut, weil sie immerzu einspringe. Das hat mich beschäftigt, weil es eben genau diese Zerrissenheit zwischen Pflichtbewusstsein und Selbstfürsorge zeigt.
Bekommen Sie auch Nachrichten aus Notfallstationen? Dort ist die Situation ja besonders dramatisch.
Was ich höre und im Stadtspital Zürich auch selbst mitbekomme: Im Notfall geben momentan alle ihr letztes Hemd.
Wie reagieren eigentlich Patientinnen und Patienten auf den Pflegenotstand?
Die grosse Mehrheit ist sehr dankbar und weiss, unter welchem Druck wir arbeiten. Dann gibts die wenigen, die reklamieren, wenn ich ihre Zehennägel noch nicht geschnitten habe.
Die Wertschätzung gegenüber dem Pflegepersonal ist also noch genauso gross wie während der Coronakrise?
Absolut. Zum Glück. Wir schätzen das sehr. Darum betone ich auch immer: Wer in den Notfall muss, soll nicht zögern. Aber überlegt euch vorher, ob der Notfall der richtige Ort ist. Oder ob es auch ein Ärztefon, die Hausärztin oder eine Apotheke sein könnte.
Gehen die Leute zu rasch in den Notfall?
Das kann ich nicht pauschal sagen. Ich gehe auch zum Arzt, wenn ich die Situation nicht mehr selbst beurteilen kann. Oder wenn ich Symptome habe, die auf etwas Schlimmes hinweisen, wie etwa Druck auf der Brust. Aber ich finde es unverhältnismässig, wenn man mit einer Erkältung in den Notfall rennt, ohne es vorher mit Neocitran oder Essigsocken versucht zu haben. Da kann eine Apothekerin genauso gut helfen. Und es steht doch überall: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Darum: Do it!
Sind die Leute ängstlicher seit der Pandemie?
Das ist gut möglich. Aber Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Darum mein Rat: Sprecht über eure Sorgen, tauscht euch mit Freunden und Nachbarn aus. Das macht die Angst oft schon etwas kleiner.
Vor einem Jahr wurde die Pflegeinitiative mit 61 Prozent angenommen. Was hat sich seither verändert?
Die Stadt Zürich etwa lancierte das Programm «Stärkung Pflege». Als Massnahme wurden 70 Prozent aller Pflegefachpersonen in den Spitälern und Gesundheitszentren in eine höhere Lohnstufe befördert. Das ist ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung.
Und doch betonen Sie immer wieder, es gebe noch viel zu tun …
Das Wichtigste ist, dass wir die Leute im Job behalten können! Das ist viel dringender als die Ausbildungsoffensive, die jetzt vom Bund beschlossen wurde. Denn was nützt es, wenn frisch ausgebildete Pflegepersonen nach zwei Jahren im Beruf wieder aussteigen?
Was schlagen Sie vor?
Zum Beispiel eine flexible Dienstplanung, bei der die Wünsche der Festangestellten berücksichtigt werden. Ausserdem braucht es mehr Teilzeitstellen und Kinderbetreuung in den Spitälern.
Wen sehen Sie am meisten in der Pflicht?
Die Institutionen müssen den Mut aufbringen, etwas Neues zu wagen – wie etwa das Spital Wetzikon. Dort bekommen Pflegende, die regelmässig im Drei-Schicht-System tätig sind, denselben Lohn für zehn Prozent weniger Arbeit. Neben den Spitälern sind aber auch die Kantone gefordert: Sie müssen Strukturen und Gesetze schaffen, damit die Gelder fliessen können. Aber es wäre falsch zu sagen, dass die Politik nicht vorwärtsmacht, es läuft sehr viel.
Sie kandidieren für den Zürcher Kantonsrat. Glauben Sie, konkret etwas bewegen zu können?
Ja, das erhoffe ich mir. Und zwar indem ich meinen Ratskolleginnen und -kollegen, die logischerweise nicht am Krankenbett stehen, schildere, wie es wirklich ist. Genau das ist die Stärke unseres Milizsystems: dass wir unsere Erfahrungen in die Politik einbringen können.
Haben Sie Ihren Berufswechsel je bereut?
Nein, nie. Es war richtig, nach 18 Jahren beim Radio und Fernsehen den Hebel nochmals umzulegen. Die Arbeit in der Pflege ist unglaublich sinnstiftend.