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Das sagt der UNRWA-Chef zur Kritik!

Philippe Lazzarini: «Ich bin ein naiver Optimist»

Krieg und Elend bestimmen seinen Alltag. Und eine Lösung ist nicht in Sicht: Philippe Lazzarini leitet das umstrittene Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge. Warum ihn die Schweiz enttäuscht, wieso Israel die UNRWA verbieten will und was er in Gaza erlebte.

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Pilippe Lazzarini, Generalkommisar UNRWA

Für jedes Land ein Stein – und Philippe Lazzarini versucht, im Gleichgewicht zu bleiben. Der Chef des Uno-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge im Garten des Palais des Nations in Genf.

Kurt Reichbach

Seine vier Kinder sind alle in verschiedenen Ländern zur Welt gekommen. Die Familie von Philippe Lazzarini (60) lebte schon in Jerusalem, New York, Somalia, Kenia, im Libanon und in Jordanien. Seit zwei Jahren wohnen sie nun in Genf. «Meiner Frau und mir war wichtig, dass die Kinder ihre europäischen Wurzeln kennen», sagt der Leiter des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge UNRWA. Nach 20 Jahren bei den Vereinten Nationen ist sich die Familie gewohnt, dass der Vater oft in Kriegsgebieten ist.

Was macht der Krieg im Nahen Osten mit Ihnen, Philippe Lazzarini?

Philippe Lazzarini: Ich bin tief besorgt – er erfordert all meine Aufmerksamkeit und Energie. Gleichzeitig versuche ich, so wenig Emotionen wie möglich zuzulassen. Der ganze Konflikt ist schon genügend emotional aufgeladen, da ist es besser, auf Autopilot zu stellen und einfach zu tun, was getan werden muss.

Was beschäftigt Sie am meisten?

Wir haben eine aussergewöhnlich schlimme Situation im Gazastreifen. Es gab schon über 40 000 Tote. Auch die Verhältnisse im Westjordanland sind enorm besorgniserregend. Nun wurde der Krieg noch in den Libanon getragen, ein weiterer Krisenherd. Wir müssen mit der Verzweiflung der Menschen umgehen und gleichzeitig mit den Attacken auf unsere Organisation. Viele politische Kreise wollen die UNRWA weghaben.

Wie äussert sich das?

Zu Beginn des Konflikts haben einige Politiker die UNRWA mit der Terrororganisation Hamas gleichgesetzt. Sie haben Gaza, Hamas und UNRWA in einen Topf geworfen und das Ziel formuliert, alles auszulöschen. Uno-Mitarbeitende werden auf Uno-Basen angegriffen. Es gibt Einschüchterungen gegenüber der UNRWA am Hauptsitz in Jerusalem. Das ist eine krasse Missachtung des Völkerrechts. Es gibt sehr aggressive Social-Media-Kampagnen, die Unwahrheiten über uns verbreiten. Die israelische Regierung hat ihr diplomatisches Netzwerk genutzt, um Länder aufzufordern, uns nicht mehr zu finanzieren. Und immer wieder die Vorwürfe, dass UNRWA-Mitarbeitende Hamas-Mitglieder seien …

Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 mussten Sie zehn Mitarbeitende entlassen, weil diesen eine Zusammenarbeit mit der Hamas nachgewiesen wurde.

Die Gebäude und Terrains der UNRWA in Gaza werden missbraucht – von der Hamas, von bewaffneten Gruppierungen, aber auch von der israelischen Armee. Es ist Krieg! Ich fordere schon lange eine unabhängige Untersuchung, um die Vorwürfe zu überprüfen. Aber seit Beginn des Kriegs darf niemand mehr in den Gazastreifen – weder internationale Medien noch Uno-Personal. Wir erleben auch einen Krieg darüber, welche Geschichte erzählt wird.

Pilippe Lazzarini, Generalkommisar UNRWA

Philippe Lazzarini am europäischen Uno-Hauptsitz in Genf. Er darf das Hauptquartier der UNRWA in Jerusalem nicht mehr besuchen.

Kurt Reichbach

Wie kann die UNRWA überhaupt arbeiten?

Wir haben heldenhafte lokale Mitarbeitende. Sie verteilen Lebensmittel, betreiben Spitäler, besorgen Medikamente. Aber man glaubt ihnen nicht, wie schlimm die Situation ist – auch deshalb fordere ich immer wieder die Präsenz der Medien.

Wie viel Geld haben Sie noch?

Genug, um dieses Jahr zu überstehen. Also genug für die nächsten zwei Monate.

Als Ihnen das Amt als Chef der UNRWA angeboten wurde, wieso haben Sie Ja gesagt?

Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren für die Uno und habe mich immer dort einsetzen lassen, wo es nötig war. Ich wusste, dass es kompliziert werden würde. Mein Vorgänger musste vor vier Jahren zurücktreten, und das Vertrauen ins Management war am Boden. Aber ich hatte nicht erwartet, dass wir von Krise zu Krise schlittern. Als ich begann, wütete die Coronapandemie, ich traf meine Führungsleute erst nach einem Jahr. Dann hatten wir eine nie da gewesene Finanzkrise, weil sich damals niemand für uns interessierte. Der Mangel an Geld führte zu einem fünfmonatigen Streik der Mitarbeitenden im Westjordanland. Und dann kam der 7. Oktober 2023. All das konnte niemand voraussehen.

Philippe Lazzarini, UNRWA Commissioner General, meets with internally displaced people in Rafah, southern Gaza, during his visit in the Gaza Strip on 12 December 2023 © 2023 UNRWA Photo

Philippe Lazzarini spricht im November 2023 mit einer intern vertriebenen Palästinenserin in einem Lager der UNRWA in Gaza.

UNRWA Photo

Wann waren Sie letztmals in Gaza?

Im Januar. Die Menschen sind nur noch im Überlebensmodus, sie sind total erschöpft. Sie können nicht mehr schlafen, da es Tag und Nacht Angriffe gibt. Ihre einzige Sorge ist, genügend Wasser und Nahrung zu finden. Die sanitäre Situation ist entsetzlich. Jetzt haben sie zehn weitere Monate Krieg hinter sich. Meine Mitarbeitenden beschreiben es als Apokalypse, die Zerstörung ist nicht vorstellbar. Die Menschen leben in Ruinen, es gibt Ratten, Kakerlaken, Insekten, die Seuchen und Krankheiten übertragen. Im Norden liegt über allem Leichengeruch, die Leute warten nur noch darauf, von einem Luftangriff getötet zu werden oder zu verhungern. Die über zwei Millionen Menschen leben heute auf einem Zehntel des Landes von früher. Und jetzt kommt der Winter. Stellen Sie sich ein Leben vor, dem jede Würde genommen wurde – dann haben Sie ein Bild von der Situation im Gazastreifen.

Sie selber sind nicht vor Ort …

… die israelische Regierung verbietet mir die Einreise. Ich kann nicht mehr in die besetzten Gebiete reisen.

Wissen Sie, wo sich die rund 100 Geiseln befinden?

Nein, ich habe keine Ahnung. Es ist furchtbar, ein Jahr in Geiselhaft, und wir haben immer noch keine Informationen über sie. Ich fühle mit ihren Familien und mit ihnen.

Haben Sie keinen Einfluss auf die Hamas? Können Sie wirklich nichts tun?

Nein, wir haben keine politische Verbindung zur Hamas. Es braucht hier politische Akteure wie Katar, Ägypten, die USA. Dies sind die Hauptverhandler und haben die Macht, einen Deal abzuschliessen.

Die Arbeit der UNRWA im Gazastreifen war doch nicht möglich ohne die Hilfe der Hamas, die seit Jahren die Regierung bildet.

Die UNRWA muss mit der Hamas umgehen. In keinem Land kann eine Hilfsorganisation ohne die Unterstützung der lokalen Herrscher arbeiten. Schon nur für die Einreise brauchen wir eine Bewilligung. Wir halten uns aber aus der Politik raus. Unser Ziel ist, humanitäre Hilfe zu leisten. Gibt es Überschneidungen mit unserer Arbeit? Nein, weil zwischen unserer Hilfe und den Bedürftigen niemand zwischengeschaltet ist.

Die UNRWA betreibt auch Schulen.

Jede zweite Person im Gazastreifen ist unter 18-jährig. Vor dem 7. Oktober 2023 gingen über 300 000 Kinder und Jugendliche in unsere Schulen. Insgesamt gibt es 600 000 schulpflichtige Kinder. Damit wir die Schulen betreiben konnten, brauchten wir die Bewilligung der Behörden, also der Hamas. Es gibt keine andere Uno-Organisation, die so viele Leistungen erbringt, die eigentlich staatlich wären, etwa Schulen und das Gesundheitswesen.

Philippe Lazzarini

Der Vater Italiener, die Mutter Ostschweizerin, aufgewachsen in La Chaux-de-Fonds NE: Der Ökonom Philippe Lazzarini (60) ist seit jungen Jahren in humanitären Organisationen tätig. Seine Frau Antonia Mulvey ist die Gründerin der NGO Legal Action Worldwide. Das Paar hat vier Kinder im Alter zwischen sieben und 15 Jahren und lebt in Genf.

Wie ist die Situation in den Flüchtlingscamps im Libanon?

Die Palästinenser wurden nie wirklich in den Libanon integriert, der am Rande des wirtschaftlichen und politischen Kollapses steht. Die Flüchtlinge sind in höchstem Grad abhängig von unserer Hilfe. Mich besorgt auch die Situation im Westjordanland. Rund 700 Menschen sind seit dem 7. Oktober getötet worden, ein Viertel davon Kinder. Die Aggressivität ist regelrecht entfesselt. All das passiert, ohne dass es bestraft wird. Zu Beginn attackierte die israelische Armee klar definierte Kriegsziele, aber je länger, je mehr werden Infrastrukturanlagen für Wasser, Energie und Verkehrswege zusammengebombt.

Das israelische Parlament will die UNRWA verbieten, hat sie als terroristische Organisation eingestuft. Eine regierungsabhängige Organisation soll Ihre Aufgaben übernehmen. Was bedeutet das?

Stand heute ist nichts in Kraft, das ist frühestens in drei Monaten der Fall. Zurzeit sieht es aus, dass die UNRWA auf dem Boden der besetzten Gebiete verboten wird. Aber es gibt Interpretationsspielraum bei der Auslegung des Gesetzes.

Kann eine andere Organisation Ihre Aufgaben übernehmen?

Das würde die Soforthilfe schwächen, und wir verlören eine ganze Generation an Kindern. Die einzige Alternative ist eine funktionierende palästinensische Regierung. Also braucht es dringend eine politische Lösung. Ohne eine solche muss der Staat Israel diese Funktion übernehmen. Sonst kreieren wir ein riesiges Vakuum. Das wird gefüllt werden, aber sicher nicht mit dem, was wir uns wünschen. Es wird die Samen säen für noch mehr Extremismus, noch mehr Terror, noch mehr Krieg.

Pilippe Lazzarini, Generalkommisar UNRWA

«Reicht die jetzige Tragödie aus, um wirkliches Engagement für eine Lösung zu wecken?», fragt Philippe Lazzarini im Saal, wo der Menschenrechtsrat tagt.

Kurt Reichbach

Was können Sie tun?

Ich werde vor der Uno-Generalversammlung sprechen, die Staaten auffordern, Israel zu bitten, das Gesetz einzufrieren. Wir brauchen mindestens einen Waffenstillstand, während dem wir helfen können, geordnete staatliche Institutionen aufzubauen.

Hat die Uno an Macht verloren?

Der Uno-Sicherheitsrat ist gespaltener als je zuvor. Bei der Gründung widerspiegelte er das Machtgleichgewicht nach dem Zweiten Weltkrieg. 80 Jahre später sieht die Realität anders aus.

Haben wir die Lehren des Zweiten Weltkriegs vergessen?

Das weiss ich nicht. Aber wenn wir so weitermachen, wird das weltweite Folgen haben, die wir nie mehr rückgängig machen können.

Was erwarten Sie vom Schweizer Bundesrat?

Dass die Schweiz ein guter Mitgliedstaat ist, die Entscheidungen der Uno, des Sicherheitsrates und die UNRWA unterstützt. Wir haben eine lange Partnerschaft mit der Schweiz, und ich hoffe wirklich, dass diese nicht endet.

Offenbar herrscht Funkstille zwischen Ihnen und Aussenminister Cassis. Warum?

Die Medien übertreiben. Wenn wir uns treffen, reden wir ausführlich über die Rolle der Schweiz. Es stimmt, dass wir uns nicht oft persönlich sehen. Ich habe aber auch nicht vor, Herrn Cassis häufiger zu treffen als andere Minister, nur weil ich Schweizer bin. Es gibt Länder, die uns mehr unterstützen.

Welche Länder sind das?

Spanien, Irland, Belgien, Luxemburg, Slowenien, Norwegen – auch Deutschland, Frankreich und Grossbritannien und die EU-Kommission. Insgesamt ist die Unterstützung aus Europa gut. Die Häufigkeit der Treffen spiegelt vielleicht die politische Haltung der Schweiz gegenüber der UNRWA. Momentan ist die Schweiz eines der skeptischsten Länder.

Sind Sie enttäuscht?

Meine Heimat ist für ihre humanitäre Tradition bekannt, ich hätte mehr erwartet. Hier habe ich als enthusiastischer IKRK-Delegierter meine Karriere begonnen. In diesem Sinne bin ich enttäuscht.

2018 bezeichnete Ignazio Cassis Ihre Organisation als Teil des Problems im Nahen Osten.

Die UNRWA gibt den Flüchtlingen Hoffnung. Überall auf der Welt treffe ich ehemalige UNRWA-Schüler, die erfolgreich sind und dankbar für die Bildung, die sie dank uns erhalten haben. Es ist nicht die humanitäre Hilfe, die den Krieg verlängert, sondern das mangelnde politische Engagement. Darüber habe ich auch mit Herrn Cassis gesprochen.

Keine Lösung in Sicht

Die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) wurde als Reaktion auf die Flucht und Vertreibung von Palästinensern infolge des arabisch-israelischen Kriegs bei Gründung des Staates Israel 1948 ins Leben gerufen. Die Uno selber hatte Israel in einer Resolution einen eigenen jüdischen Staat zugestanden und einen Teilungsplan mit Palästina vorgelegt. Die Araber lehnten den Plan ab. Die UNRWA wurde als temporäre Hilfsmassnahme geschaffen, bis eine Zweistaatenlösung vorliegt. Ihr Mandat wurde über die Jahrzehnte immer wieder verlängert. In den 90er-Jahren schien eine Lösung in Sicht, als Israel und Ägypten in den Verträgen von Camp David Frieden schlossen. Die Hoffnungen zerschlugen sich, der Nahostkonflikt schwelt und wütet weiter.

Was ist denn die Lösung?

Die Zwei-Staaten-Lösung. Es leben zwei Völker in derselben Region. Früher oder später muss ein Weg gefunden werden, dass diese Menschen in Frieden zusammenleben. Die UNRWA wird ihr Mandat beenden, sobald eine Lösung gefunden ist.

Findet die Welt eine Lösung?

Es ist deprimierend, aber wir müssen optimistisch bleiben. Was ist die Alternative, wenn die Welt aufgibt? Diese Menschen sind da und werden da bleiben. Oft sagen die Leute, ich sei ein naiver Optimist. Manchmal hilft Naivität, den Optimismus aufrechtzuerhalten, und erinnert einen daran, dass man bis zur Lösung keine Ruhe geben sollte. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel erreicht, ob im Bildungsbereich, bei Impfungen für Kinder oder der Geschlechtergleichheit.

Was hilft Ihnen, diesen Optimismus zu bewahren?

Meine Familie ist mein Rückzugsort, eine grosse Stütze. Natürlich wäre es leichter aufzuhören. Aber ich habe das Privileg, eine Stimme für die zu sein, die nicht sprechen können. Sie leben in Gaza und den Elendslagern der Region. Würden wir aufgeben, wird die ganze Welt ihnen den Rücken kehren.

Zahlen & Fakten

1,47 Milliarden Dollar erhielt die UNRWA 2023 von etwa 90 Mitgliedstaaten der Uno. Dieses Jahr haben mehrere Länder ihre Beiträge gestoppt. Darunter die Schweiz.

30000 Mitarbeitende beschäftigt das Hilfswerk. 13 000 davon im Gazastreifen.

5,9 Millionen Palästinenser leben im Nahen Osten. In den besetzten Gebieten und in Flüchtlingslagern umliegender Länder. Als Israel 1948 gegründet wurde, waren es 1,2 Millionen.

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
MR
Monique RyserMehr erfahren
Von Silvana Degonda und Monique Ryser am 7. November 2024 - 14:54 Uhr