Sie gehören zu den gefragtesten Politexpertinnen des Landes – nun treffen sie sich zum ersten Mal live. «Das war längst überfällig», sagt Cloé Jans (36) operative Leiterin des Politforschungsinstituts GfS Bern. «Für mich ist es eine riesige Ehre», ergänzt die Lobbying-Forscherin Rahel Freiburghaus.
Sie ist mit 28 Jahren die Jüngste in der Runde – eine Vertreterin der viel zitierten Generation Z. US-Politkennerin Claudia Franziska Brühwiler (40) gehört nicht mehr zu dieser. «Ich glaube eh nicht so an diese Generationenaufteilung», sagt sie.
Ob Föderalismus, Schweizer Wahlen oder US-Midterms: Zunehmend sind es Frauen, die uns die Politik erklären. Ein Zufall?
Claudia Franziska Brühwiler: An der Uni St. Gallen verzeichneten wir bei den Staatswissenschaften stets einen höheren Frauenanteil. Was sich verändert hat, sind die Medien, die diese Realität nun abbilden und vermehrt Frauen als Expertinnen anfragen.
Cloé Jans: Medien tragen zur Entwicklung bei. Aber es liegt auch an den Frauen selbst. Die neue Generation steht bewusster für die eigene Meinung ein und wird auch vom Umfeld ermuntert, ihren Platz einzunehmen.
Brühwiler: Ja, aber dazu braucht es Rollenvorbilder. Und wer präsentiert diese? Unsere Unis und die Medien. Jans: Nicht nur, auch das private Umfeld ist wichtig. Meine Mutter nahm mich an den ersten Frauenstreik in den 90er-Jahren mit.
Rahel Freiburghaus: Meine Studentinnen an der Uni Bern beschäftigt diese Frage kaum mehr. Alle wollen mit guten Leistungen brillieren, unabhängig von der Geschlechteridentität.
Stehen Sie gern in der Öffentlichkeit?
Jans: Also, anfangs haben mich TV-Auftritte oder grössere Interviews gestresst. Aber ich habs nie bereut.
Brühwiler: Vor einigen Jahren sagte ich: In die «Arena» gehe ich nie! Dann kam der Anruf, und ich fand: Jetzt kann ich nicht Nein sagen. Im Wissenschaftsbetrieb zu sein, ist ein grosses Privileg. Wir sind an öffentlich finanzierten Unis und schulden es der Öffentlichkeit, etwas zurückzugeben.
Jans: Das ist Service public! Mich nervt aber, wenn ich bei einer Anfrage merke: Sie kommt nur, weil ich eine Frau bin. Freiburghaus: Ich finde das sogar verletzend. Brühwiler: Bei meinem ersten TV- Auftritt bin ich als Lückenbüsserin für eine andere Frau angefragt worden. Das wurde mir auch so kommuniziert. Ich überlegte kurz, ob ich beleidigt sein soll. Aber ich nahm es als Chance. Irgendwann hat man auch das Selbstverständnis zu sagen: Ich bin nicht irgendeine Frau, sondern eine wirklich gute!
Freiburghaus: Ich versuche jeweils rauszukitzeln, ob es vor allem darum geht, eine Frau als Expertin zu befragen à la «Warum gelangen Sie mit Ihrer Frage ausgerechnet an mich?»
Werden Frauen als Expertinnen anders wahrgenommen?
Brühwiler: Absolut, das spüre ich bei den Rückmeldungen. Die meisten sind sehr positiv, doch oft geht es nicht darum, was man sagt, sondern wie man dabei aussieht. Meine «Lieblingsrückmeldung» kam von einer Frau. Sie schrieb, dass sie mich nicht ernst nehmen könne, weil ich wie eine russische Nonne in den 70er-Jahren aussehe.
Jans: Oh mein Gott! Brühwiler: Da kommts auf die Tagesform an, ob man lacht oder sagt: Gebt mir nächstes Mal einen Kartoffelsack.
Freiburghaus: Ich durfte der «NZZ am Sonntag» ein Neujahrsinterview geben. Auf dem Foto trage ich eine Jeans mit einem Loch – die habe ich so gekauft. Da schrieben mir mehrere Leute, ich sei doch kompetent und habe es nicht nötig, mich mit einer zerrissenen Jeans anzubiedern.
Jans: Mir hat ein Schönheitschirurg ein Mail geschrieben mit dem Betreff: «Ihre Nase». Er meinte, von einer kleinen Korrektur würde ich enorm profitieren. Als Teenager hätte mich das in eine Identitätskrise gestürzt – heute stehe ich zum Glück drüber.
Warum sind Sie Politologinnen geworden?
Freiburghaus: Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Bis zur fünften Klasse wollte ich Bäuerin werden. Im Gymi haben sich meine Interessen dann verschoben. Mein Geschichtslehrer sagte: «Du bist die, die Zeitungen liest – da wäre Politikwissenschaft doch spannend.» Ich kam also ziemlich zufällig zu meinem Fach.
Brühwiler: Mir fiel der Studienentscheid schwer. Mich interessierte so vieles. Ich hatte gern Sprachen, Geschichte – nahm am Zeitgeschehen teil. Praktischerweise gab es den Studiengang Internationale Beziehungen mit dem für meine Eltern beruhigenden Label HSG (lacht). Mit der Dissertation bin ich dann Richtung Amerika abgedriftet – oder angekommen.
Jans: Politik war zu Hause immer ein Thema und beeinflusste mich schon als Kind. Als ich am Kunstgymi war, sagte meine Gotte zu mir: «Wie wärs mit Internationalen Beziehungen?» Ich: «Was, das kann man studieren?» Dann merkte ich: Die Schweizer Politik interessiert mich mehr. Später hat mich Claude Longchamp aus seinem Seminar rekrutiert – und seitdem bin ich beim Politforschungsinstitut GfS Bern.
Frau Brühwiler, woher kam das Interesse für die USA?
Während meines Doktorats 2008 hatte ich einen Gastaufenthalt an der renommierten katholischen University of Notre Dame in Indiana. Es war das Jahr, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Die europäische Berichterstattung war geprägt von Euphorie, während ich auf dem Campus mit völlig anderen Denkmustern konfrontiert wurde. Das hat mich fasziniert. So habe ich meine Habilitation über amerikanischen Konservatismus geschrieben. Jans: Das Wichtigste ist doch, dass man für ein Thema brennt.
Sind Sie in einer Partei?
Freiburghaus: Nein. Mein Urgrossvater war lange Nationalrat für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Mich fasziniert bis heute, wie gut die Bauern politisch informiert sind. Dafür nervt mich nichts so sehr, wie wenn das politische System als Sonderfall verklärt wird.
Jans: Als Politikbeobachterinnen müssen wir Fakten ins Zentrum stellen und von aussen auf das Geschehen blicken. Deshalb halte ich meine Meinung privat – ausser bei progressiven Themen wie etwa der Rolle der Frau. Brühwiler: Meinen Studenten sage ich natürlich auch mal meine Meinung zu Trump. Was ich beobachte: Frage ich an der Uni, wer Mitglied einer Partei ist, gehen nur wenige Hände hoch. Und geht eine rauf, dann von einer Person, die in der CSU in Bayern sitzt.
Woran liegts?
Brühwiler: In der Schule fristet Schweizer Geschichte und Politik leider immer noch ein Mauerblümchendasein. Jans: Dabei ist politische Bildung so wichtig. Wir können schon über Geschichte reden, aber müssen sie auch erlebbar machen. Freiburghaus: Leute zwischen 30 und 55, die voll im Berufsleben stecken, muss man wieder mehr für unser Milizsystem begeistern. Etwa indem man kommunale Ämter wie den Schulrat attraktiver macht, weil man sie offiziell als Managementerfahrung oder Weiterbildung anrechnen kann.
Jans: Leider ist das Verständnis vom Milizsystem auch nicht mehr zeitgemäss. Wie soll eine Frau Familie, Job und Politamt unter einen Hut bringen? Kürzlich sagte ein FDP-Nationalrat, seine Frau mache sein Bett, damit er Zeit für anderes hat. Das zeigt: Unser Parlament ist nur teilweise ein Abbild der Bevölkerung. Es braucht Dinge wie den Frauenstreik, die Themen aus der Zivilgesellschaft in die Politik tragen. Freiburghaus: Es wird nach wie vor erwartet, dass man sich in einer Partei hocharbeitet: von der Kassiererin im Verein über die Gemeinde- zur Nationalrätin. Das schreckt viele Frauen ab – und auch junge Menschen.
Apropos Frauenrolle: Die Bundesratswahl wurde von der Debatte um junge Mütter geprägt. Frau Jans, Frau Brühwiler, Sie haben selber Kinder …
(Längeres Schweigen …)
Jans: Zuerst einmal: Bundesratswahlen sind überbewertet. Klar wäre es cool, eine junge Mutter in der Landesregierung zu haben. So solidarisch ältere Männer sein mögen, entschieden wird anders. Aber ehrlich: Ich würde das Amt auch nicht übernehmen. Ich fand es unfair, dass so viel Druck ausgeübt wurde, auch medial. Im Stil von: Jetzt hättet ihr die Chance, aber wollt nicht! Ist es euch doch nicht wichtig?
Freiburghaus: Es kam zu einem schrägen Metadiskurs. Zuerst über die Mütter, dann über den Stadt-Land-Graben. Da fühlte ich mich als Forscherin verpflichtet, Gegenwind zu geben, und thematisierte im «Tages-Anzeiger» das Durchschnittsalter des Bundesrats. Jans: Das liegt bei 61! Freiburghaus: Genau. Wir haben das älteste Kabinett Europas. Darüber müssen wir reden.
Brühwiler: Bei der Mütter-Diskussion ging es gar nicht so ums Gremium, sondern ums Thema Vereinbarkeit und Rollenbilder – sprich, man hat eine gesellschaftliche Debatte im Forum Bundesratswahl ausgetragen. So gesehen fand ich den Diskurs spannend.
Es ist Wahljahr. 2019 war es ein Klima- und Frauenjahr. 2023?
Jans: Wenn die Frauenquote im Nationalrat auf 20 Prozent runtergehen würde, gäbe das sicher einen Aufschrei. Aber das Thema ist nicht mehr gleich mobilisierend und prägend wie 2019. Wir haben einen Krieg in Europa, steigende Migrationszahlen, Inflation. Eine unsichere Stimmung also, die den Ton für die Wahlen setzt.
Brühwiler: Nicht meine Baustelle. In den USA könnten 2024 bei den Primaries zwei Frauen ein Wörtchen mitreden – Nikki Haley bei den Republikanern und Kamala Harris bei den Demokraten. Sind die USA ready für eine Frau an der Spitze? Ja, aber sie waren nicht ready für Hillary Clinton. Wahrscheinlicher ist, dass die erste Präsidentin der USA eine Republikanerin wird.
Zurück in die Schweiz: Frau Freiburghaus, Sie sind noch keine 30. Interessiert sich Ihr Umfeld für Politik?
Mein Umfeld schon, aber das ist sicher nicht repräsentativ. Corona hat die Jungen wieder mehr politisiert. So verzeichneten etwa die Jungparteien Zulauf. Jans: Es hat eine Politisierung stattgefunden – aber das Fundament ist nicht solider. Die Generation Z fokussiert sich auf einzelne Themen wie den Klimastreik oder die Black-Lives-Matter-Bewegung, aber es ist wichtig, den Bezug zur Demokratie insgesamt zu stärken.
Frau Jans, ich habe gelesen, Ihnen sagte mal jemand: Politik ist doch scheisse …
Jans (lacht): Ihr zuerst … Brühwiler: Wenn ich sage, ich befasse mich mit amerikanischer Politik, bekomme ich sehr oft einen Vortrag von Leuten zu hören, warum die USA schlecht sind. Ich höre höflich zu und sage dann das Gegenteil. Freiburghaus: Nehme ich als Expertin an einem Podium zum Thema Föderalismus teil, höre ich hie und da leicht vorwurfsvoll aus der Runde: «Föderalismus ist doch ein Altherrenthema!» Bin ich hingegen in Amerika an einer wissenschaftlichen Konferenz, passiert das nie – da sehe ich viele Frauen. Jans: Natürlich ist Politik nicht scheisse! Die Aussage hat mich deshalb so aufgeregt, weil sie so naiv ist. Das ganze Leben ist doch geprägt von Politik. Ich bin überzeugt, dass jede und jeder einen Zugang zum Thema findet, auch wenn er nicht immer offensichtlich ist.