Womit fängt eine Wanderung am Gotthard an? Mit Stau! Der Car der Leserinnen und Leser der Schweizer Illustrierten aus Zürich und Arth-Goldau steckt nach Erstfeld UR in der Blechlawine fest. Dabei gehts heute gar nicht durch den Tunnel, sondern auf den Gotthardpass!
Die einfachere Anreise hat der Ehrengast des Tages: Bundesrat Ignazio Cassis (62). Er kommt direkt von seinem Wohnort Sessa bei Lugano angereist. «Meine Frau Paola und ich waren gerade eine Woche wandern im Bleniotal. Wir haben die Ruhe genossen.»
Während die Röntgenärztin wieder im Spital am Arbeiten ist, freut sich Cassis darauf, 180 Leserinnen und Lesern der Schweizer Illustrierten und von «L’illustré» auf der traditionellen 1.-August-Wanderung seine Heimat zu zeigen.
Welche Kulisse auf der 36 Meter hohen Staumauer des Lago della Sella – eingerahmt von den Gipfeln Monte Prosa, Tritthorn, Pizzo Centrale, Giübin und Posmeda.
Roger HofstetterIn der wildromantischen Region oberhalb des Gotthardpasses auf 2106 Metern über Meer, durch die diese rund 90-minütige Wanderung führt, kennt Cassis sich aus. «Ich habe hier meinen WK als Bataillonsarzt gemacht.» Berührungsängste kennt der FDP-Magistrat keine.
Kaum beginnt die Wanderung, unterhält er sich mit Alexandro Zürcher (59) aus Basel. «Mein Schwager führt die ‹Osteria del Centenario› in Locarno», erzählt dieser dem Bundesrat. «Ja, sehr fein, da war ich auch schon essen!»
Mit Wanderinnen aus Baselland wird der Bundesrat aus dem Tessin patriotisch: «Wir alle tragen zur Vielfalt unseres Landes bei. Und wir dürfen stolz sein auf unsere Schweiz!»
Fabienne BühlerWanderinnen aus Luzern singt der Aussenminister «Vo Luzern gäge Wäggis zue» vor, einem Paar aus dem Berner Seeland erzählt Cassis vom Wandbild seiner Heimat Sessa im Bundeshaus-Büro und der Liebe zu Bern, die er als Bundespolitiker entdeckte. «Aber Berndeutsch rede ich trotzdem nicht. Auää.»
Seit rund sechs Jahren sitzt Ignazio Cassis im Bundesrat. «Unglaublich, was ein Vertreter des Tessins symbolisch ausmacht.» Im Südkanton frage man sich viel weniger, was die da oben in Bern machen. «Das Gremium ohne einen Vertreter der italienischsprachigen Schweiz kann ich mir kaum mehr vorstellen», sagt Cassis, der sich im Dezember zur Wiederwahl stellt.
Und wie steht es um die Italienischkenntnisse seiner Kolleginnen und Kollegen? «Ich glaube, Viola Amherd kanns am besten. Karin Keller-Sutter spricht gut und hat hohe Ansprüche an sich selbst.»
«Der schönste Berg der Schweiz!» Bundesrat Ignazio Cassis auf dem Gotthardpass, unten die Pflastersteinstrasse der Tremola.
Fabienne BühlerBeim Aufstieg zum Stausee Lago della Sella muss sich Ursula Studer (78) aus Oetwil an der Limmat ZH kurz hinsetzen. Die Höhe macht ihr etwas zu schaffen. Cassis, früher Kantonsarzt im Tessin, ist sofort zur Stelle.
Er schenkt ihr sein rotes Dächlikäppli, fragt, ob sie genügend getrunken habe. «Auch als Bundesrat bin ich immer noch Arzt. Ich mache das gerne.»
Geschenk für Ursula Studer. Cassis’ Dächlikäppli spendet der Zürcherin Schatten. «Können Sie es mir unterschreiben?» – «Aber klar!»
Fabienne BühlerSchon wieder Stau! Auf der 324 Meter langen Staumauer wollen alle ein Selfie mit dem Bundesrat vor dem glitzernden Blau des Sees und dem Panorama des Monte Prosa. Manuela Kunz (59) aus Binningen BL richtet Cassis einen Gruss von ihrer Mutter aus.
Später erzählt sie, dass dieser der Aussenminister manchmal leid tue, wenn er Kritik einstecken müsse. «Er hat mit der EU aber ein schwieriges Dossier!» Angesprochen darauf, sagt Cassis: «Kritik gehört dazu. Sie verpflichtet, sich immer wieder selber zu hinterfragen.»
Einzig persönliche Angriffe gingen nicht spurlos an ihm vorbei. «Ich bin etwas vorsichtiger geworden.» Das Amt als Bundesrat hingegen gefalle ihm je länger, desto mehr. «Weil ich immer mehr Erfahrung habe und diese auch einbringen kann.»
Wiedersehen nach 41 Jahren! Die ehemaligen Arbeitskollegen Eberhard Voss (l.) und Justus Mylius treffen sich per Zufall an der Wanderung.
Fabienne BühlerKurz vor der Einkehr auf der Alp Sorescia spielen die Alphornisten von I Corni da Curzönas «Uf der Schafweid». Cassis, der Trompete und Horn beherrscht, schaut sich die Instrumente ganz genau an, wünscht sich das Lied «Ria dä tri qatar» und singt beherzt mit. Derweil unterhalten sich die Leser Eberhard Voss (69) und Justus Mylius (72) angeregt.
Vor 41 Jahren haben sich die ehemaligen BBC-Mitarbeiter (Vorgänger der ABB) aus den Augen verloren – nun will es der Zufall, dass die beiden Aargauer mit deutschen Wurzeln an dieser Wanderung aufeinandertreffen. «Ich bin zum ersten Mal dabei und allein gekommen. Dass ich einen alten Freund treffe, hätte ich nicht gedacht», sagt Mylius.
Ruth und Ruedi Bollhalder aus Wädenswil ZH wandern bereits das vierte Jahr mit. «Mit einem Bundesrat so unkompliziert zu plaudern, ist grossartig.»
«Musik ist wesentlich in meinem Leben», sagt Bundesrat und Trompetenspieler Cassis. Den Alphornisten von I Corni da Curzönas hört er gern zu.
Fabienne BühlerApropos: Vor lauter Reden trifft der Bundesrat als Letzter bei der Festhütte ein. «Ich bin es gewohnt, das Schlusslicht bei Märschen zu sein. Als Arzt im Militär konnte ich so alle einsammeln, denen es nicht so gut ging.» In der Festhütte auf der Alp Sorescia ist die Stimmung so prächtig wie draussen die Aussicht aufs Gotthardmassiv.
Vom Bauernverband gibts Salami, Prosciutto crudo und Alpkäse offeriert, dazu Musik der Trompeter der Bandella Ritom. Für den Bundesrat steht seine wichtigste Aufgabe aber noch an: die Polenta rühren! «Als Student in Zürich haben wir uns immer über die Deutschschweizer mit ihrer Polenta lustig gemacht. Das war eine Zwei-Minuten-Suppe!» Eine gute Polenta müsse man mit dem Messer schneiden können.
Geniesst das Bad in der Menge. Der Bundesrat mit dem Gemeindepräsidenten von Airolo Oscar Wolfisberg (r.) und Urs Schneider vom Schweizer Bauernverband (v. r.).
Blaise KormannCassis nimmt die Holzkelle und stöhnt: «Porca miseria, das braucht aber Muskeln!» Dazu kredenzt die Familie Lombardi Tessiner Luganighe-Würste. «Im Dialekt hier heisst das korrekt: Polénta e Lüganigh», sagt Cassis, dessen Frau Paola aus dem Nordtessin stammt. «Für diesen Dialekt musste ich zuerst mal in die Lehre!»
Wenn er heute überhaupt mal zum Kochen komme, dann für sie. «Wenn Paola am Abend Pikett hat, gibts von mir anschliessend Stocki und Fischstäbli.» Einen guten Risotto kriege er aber auch hin.
«Im Kupferkessel wird die Polenta perfekt», sagt Cassis. Die Älplerfamilie Lombardi kredenzt dazu Tessiner Luganighe-Würste.
Fabienne BühlerSeine Frau ist es auch, der er oftmals seine Reden wie jene zum 1. August vorliest. «Sie vertritt das Volk und sagt mir ehrlich, wenn eine Rede langweilig ist oder zu lang.» Heute trifft er den Ton. «Nachem Schaffe wird gfiiret», zitiert er die Deutschschweizer. Das Publikum klatscht.
Dann wird der Bundesrat ernster. Er appelliert an die gemeinsame Identität und ruft dazu auf, wieder mehr innezuhalten und nachzudenken.
Für eine gute Polenta grobkörnige Polenta alla ticinese verwenden.
Roger HofstetterEinen weiteren Lacher gibts zum Schluss, als der Bundesrat von SI-Chefredaktorin Silvia Binggeli und dem Tessiner Tourismusverband einen Laib Alpkäse erhält. Denn der Bundesrat, so verrät er dem Publikum, fliege noch am selben Abend ins indonesische Jakarta. «Es dürfte zolltechnisch wohl schwierig werden, diesen Käse zu importieren.»
Er werde die rund zehntägige Reise, die ihn zudem nach Singapur, Australien und Neuseeland führe, auch ohne Käse überleben. «Dafür geniesse ich ihn dann bei meiner Rückkehr. Grazie mille. An einem solchen Tag ist Politiker sein ein besonderes Vergnügen!»
Bundesrat Cassis spricht zu den Gästen.
Fabienne BühlerDie gute Nachricht für alle Wanderinnen und Wanderer kommt ebenfalls zum Schluss: Auf der Rückfahrt gibts am Gotthard keinen Stau.