In ihrer Wohnung in Olten stellt Neda Amani, 32, kleine Gläschen mit einem kupferfarbenen Aufguss auf den Tisch. «Im Iran heisst es, durch unsere Adern fliesse kein Blut, sondern Schwarztee», scherzt sie und setzt sich auf ein Kissen am Boden. «Und es stimmt: Ich trinke ihn von morgens bis abends.» Nun – Schwarztee hält wach. Und nie hat es in Neda Amanis Leben eine Zeit gegeben, in der sich das Wachsein mehr lohnte.
Seit am 14. September 2022 die 22-jährige Mahsa Amini wegen eines zu locker sitzenden Kopftuchs in Teheran von der Sittenpolizei verhaftet und danach mutmasslich von Polizisten zu Tode geprügelt wurde, brodelt es im Iran. Frauen verbrennen auf der Strasse Kopftücher oder schneiden sich die Haare ab. Bei den Protesten aber geht es um viel mehr als den Schleierzwang.
Männer und Frauen skandieren Hand in Hand: «Tod dem Diktator, nieder mit dem Unterdrücker!»
«Auf diesen Moment haben wir so lange gewartet», sagt Amani – sie ist die Tochter iranischer Eltern. Ihr langes Haar fällt wie ein Seidenvorhang über ihren Rücken. «Ich kann verstehen, wenn sich Frauen aus Protest die Haare abschneiden», sagt sie, «aber mein Weg ist ein anderer.»
«Jetzt ist einfach genug!»
Seit Neda Amani 16 war, engagiert sie sich für die Menschenrechte im Iran. Sie schreibt Briefe an die Schweizer Regierung, dokumentiert für die NGO Women’s Human Rights International Association Menschenrechtsverletzungen im Iran und hielt kürzlich ein Referat vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf. Hauptberuflich arbeitet die Historikerin als Sachbearbeiterin in einem KMU. Für den Iran engagiert sie sich abends und nachts, ehrenamtlich. Weil sie nicht anders kann: «43 Jahre lang hat das iranische Volk gelitten, jetzt ist einfach genug!»
Neben Neda sitzt ihr Vater, Ali Amani, 61, ein schmaler Mann mit freundlichen Augen. Wenn seine Tochter spricht, mit einer Leidenschaft, als müsse sie ein riesiges Publikum überzeugen, dann merkt man, wie sehr ihn das berührt. Weil er seinen Kindern – Neda hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder – stets vorgelebt hat, dass es im Leben darum geht, gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen.
Vier Jahre Haft
Ali Amani ist im Nordwesten des Irans als Sohn eines Grossbauern aufgewachsen. Während der Islamischen Revolution 1979 leistet er an der Seite der Volksmudschahedin Widerstand gegen die Monarchie und für eine Demokratie. Doch kaum ist der Schah gestürzt, übernehmen die bis heute herrschenden Mullahs die Macht und bringen statt Freiheit eine neue Form von Totalitarismus. Die Volksmudschahedin werden zum Staatsfeind erklärt. Tausende Mitglieder werden verhaftet und hingerichtet. Auch Ali Amani bleibt nicht verschont. 1982 kommt er für vier Jahre in Haft.
Heute, 40 Jahre später, krempelt er den rechten Hemdärmel hoch: Sein Ellbogen gleicht einem knorrigen Ast. «Acht Mal haben sie mir im Gefängnis den Arm gebrochen», sagt er mit einem Anflug von Stolz – sein Widerstand indes bleibt ungebrochen.
«Keine soziale Gerechtigkeit»
Ende der 80er-Jahre flüchten Nedas Eltern über die Türkei in die Schweiz. Die erste Tochter kommt noch im Iran zur Welt, Neda und ihr Bruder in Olten. Die Eltern erziehen ihre Kinder mit viel Toleranz für die neue Umgebung. «Unsere Eltern haben uns oft von ihrer Heimat erzählt, von der fantastischen Natur und den mächtigen Bergen», erzählt Neda. «Aber sie haben immer auch betont, was nicht gut ist: dass Menschen wegen ihrer Gesinnung hingerichtet werden, dass Frauen stark benachteiligt sind und dass es keine soziale Gerechtigkeit gibt.»
In der Schweiz schliesst sich Familie Amani der Exil-Opposition an, besucht Konferenzen und protestiert an Demonstrationen öffentlich gegen das Mullah-Regime. Dafür zahlt sie einen Preis: eine Rückkehr in den Iran ist tabu, Telefongespräche mit Angehörigen sind riskant – diese könnten verhaftet werden, wenn herauskommt, dass sie mit Exil-Iranern im Widerstand verbunden sind. «Leider habe ich den Grossteil meiner Familie noch nie gesehen», sagt Neda.
Die Oltnerin kämpft für ein Land, dessen Duft sie noch nie gerochen hat, für Menschen, die sie nur von Bildern oder über Social Media kennt. Wie geht das zusammen? «Mein Vater sagt immer, ich hätte sein Revoluzzer-Blut geerbt», sagt Neda. «Der Sinn für Gerechtigkeit ist einfach tief in mir drin.» Darum macht sie alles, um die Demonstrierenden auf den Strassen Irans zu unterstützen: fasst Inhaftierte und Hingerichtete in Namen und Zahlen, analysiert Videos auf Social Media. «Diesmal sind die Proteste anders», sagt sie. «Frauen und Männer aus allen Schichten begehren auf. Es geht um die Freiheit aller!» Kritik übt sie an der Schweizer Regierung: «Sie muss endlich härtere Massnahmen ergreifen.»
Beim Verabschieden sagt Neda Amani, sie sei überzeugt, dass sie das Land ihrer Eltern kennenlernen werde, «bald, ganz bald». Bis dahin wird sie noch jede Menge Schwarztee trinken, ein Schluck fremde Heimat, Tag für Tag.