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Proteste im Iran

«Auf diesen Moment haben wir lange gewartet»

Vor 40 Jahren wurde ihr Vater im Iran verhaftet und gefoltert. Darum kämpft Neda Amani mit Kopf und Herz gegen das Regime in ihrer zweiten Heimat – von Olten aus. Sie glaubt an die Freiheit eines ­Landes, in dem sie selbst noch nie war.

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Neda Amani, Historikerin und Menschenrechtsaktivistin mit Fokus Iran, wo sie ihre Wurzeln hat, Olten, Foto Lucia Hunziker / RASCH

Neda Amani zeigt in ihrer Wohnung in Olten Zeugnisse des Schreckens: Porträts von Menschen, die vom Mullah-Regime hingerichtet wurden.

Lucia Hunziker / Ringier Axel Springer Schweiz

In ihrer Wohnung in Olten stellt Neda Amani, 32, kleine Gläschen mit einem kupferfarbenen Aufguss auf den Tisch. «Im Iran heisst es, durch unsere Adern fliesse kein Blut, sondern Schwarztee», scherzt sie und setzt sich auf ein Kissen am Boden. «Und es stimmt: Ich trinke ihn von morgens bis abends.» Nun – Schwarztee hält wach. Und nie hat es in Neda Amanis Leben eine Zeit gegeben, in der sich das Wachsein mehr lohnte.

Seit am 14. September 2022 die 22-jährige Mahsa Amini wegen eines zu locker sitzenden Kopftuchs in Teheran von der Sittenpolizei verhaftet und danach mutmasslich von Polizisten zu Tode geprügelt wurde, brodelt es im Iran. Frauen verbrennen auf der Strasse Kopftücher oder schneiden sich die Haare ab. Bei den Protesten aber geht es um viel mehr als den Schleierzwang.

Protesters demonstrate during the global protest against the Iranian regime in front of the Iranian embassy in Bern, Switzerland, Saturday, October 1, 2022. They protest against the death of Mahsa Amini, a woman who died while in police custody in Iran. Mahsa Amini was arrested by Iran's morality police for allegedly violating its strictly-enforced dress code. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Auch in der Schweiz demonstrieren Exil-Iranerinnen und -Iraner seit Wochen gegen das Regime in der alten Heimat.

keystone-sda.ch

Männer und Frauen skandieren Hand in Hand: «Tod dem Diktator, nieder mit dem Unterdrücker!»

«Auf diesen Moment haben wir so lange gewartet», sagt Amani – sie ist die Tochter iranischer Eltern. Ihr langes Haar fällt wie ein Seidenvorhang über ihren Rücken. «Ich kann verstehen, wenn sich Frauen aus Protest die Haare abschneiden», sagt sie, «aber mein Weg ist ein anderer.»

«Jetzt ist einfach genug!»

Seit Neda Amani 16 war, engagiert sie sich für die Menschenrechte im Iran. Sie schreibt Briefe an die Schweizer Regierung, dokumentiert für die NGO Women’s Human Rights International Association Menschenrechtsverletzungen im Iran und hielt kürzlich ein Referat vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf. Hauptberuflich arbeitet die Historikerin als Sachbearbeiterin in einem KMU. Für den Iran engagiert sie sich abends und nachts, ehrenamtlich. Weil sie nicht anders kann: «43 Jahre lang hat das iranische Volk gelitten, jetzt ist einfach genug!»

Neda Amani, Historikerin und Menschenrechtsaktivistin mit Fokus Iran, wo sie ihre Wurzeln hat, hier mit ihrem Vater Ali, Olten, Foto Lucia Hunziker / RASCH

Ali Amani taucht mit seiner Tochter in seine Vergangenheit ein: Viele seiner Jugendfreunde wurden im Iran hingerichtet.

Lucia Hunziker / Ringier Axel Springer Schweiz

Neben Neda sitzt ihr Vater, Ali Amani, 61, ein schmaler Mann mit freundlichen Augen. Wenn seine Tochter spricht, mit einer Leidenschaft, als müsse sie ein riesiges Publikum überzeugen, dann merkt man, wie sehr ihn das berührt. Weil er seinen Kindern – Neda hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder – stets vorgelebt hat, dass es im Leben darum geht, gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen.

Vier Jahre Haft

Ali Amani ist im Nordwesten des Irans als Sohn eines Grossbauern aufgewachsen. Während der Islamischen Revolution 1979 leistet er an der Seite der Volksmudschahedin Widerstand gegen die Monarchie und für eine Demokratie. Doch kaum ist der Schah gestürzt, übernehmen die bis heute herrschenden Mullahs die Macht und bringen statt Freiheit eine neue Form von Totalitarismus. Die Volksmudschahedin werden zum Staatsfeind erklärt. Tausende Mitglieder werden verhaftet und hingerichtet. Auch Ali Amani bleibt nicht verschont. 1982 kommt er für vier Jahre in Haft.

Neda Amani, Historikerin und Menschenrechtsaktivistin mit Fokus Iran, wo sie ihre Wurzeln hat, Olten, Foto Lucia Hunziker / RASCH

«Ich wurde in den Widerstand hineingeboren», sagt Neda Amani (hier achtjährig). Schon als Kind nahm sie an Iran-Protesten teil.

Lucia Hunziker / Ringier Axel Springer Schweiz

Heute, 40 Jahre später, krempelt er den rechten Hemdärmel hoch: Sein Ellbogen gleicht einem knorrigen Ast. «Acht Mal haben sie mir im Gefängnis den Arm gebrochen», sagt er mit einem Anflug von Stolz – sein Widerstand indes bleibt ungebrochen.

«Keine soziale Gerechtigkeit»

Ende der 80er-Jahre flüchten Nedas Eltern über die Türkei in die Schweiz. Die erste Tochter kommt noch im Iran zur Welt, Neda und ihr Bruder in Olten. Die Eltern erziehen ihre Kinder mit viel Toleranz für die neue Umgebung. «Unsere Eltern haben uns oft von ihrer Heimat erzählt, von der fantastischen Natur und den mächtigen Bergen», erzählt Neda. «Aber sie haben immer auch betont, was nicht gut ist: dass Menschen wegen ihrer Gesinnung hingerichtet werden, dass Frauen stark benachteiligt sind und dass es keine soziale Gerechtigkeit gibt.»

The simple act of walking has become a display of defiance for a young Iranian woman who often moves in Tehran’s streets without a compulsory headscarf, or hijab. With every step, she risks harassment or even arrest by Iran’s morality police whose job it is to enforce the strict dress code imposed after the 1979 Islamic Revolution. Tehran. Iran.12 October 2022. Photo by SalamPIx/ABACAPRESS.COM (FOTO: DUKAS/ABACA)

Macht und Ohnmacht. Der «Turm der Freiheit» in Teheran ist heute ein Symbol der Mullahs und der Unterdrückung. Eine junge Frau protestiert gegen den Kopftuchzwang.

Dukas

In der Schweiz schliesst sich Familie Amani der Exil-Opposition an, besucht Konferenzen und protestiert an Demonstrationen öffentlich gegen das Mullah-Regime. Dafür zahlt sie einen Preis: eine Rückkehr in den Iran ist tabu, Telefongespräche mit Angehörigen sind riskant – diese könnten verhaftet werden, wenn herauskommt, dass sie mit Exil-Iranern im Widerstand verbunden sind. «Leider habe ich den Grossteil meiner Familie noch nie gesehen», sagt Neda.

Neda Amani, Historikerin und Menschenrechtsaktivistin mit Fokus Iran, wo sie ihre Wurzeln hat, Olten, Foto Lucia Hunziker / RASCH

«Fussball ist für mich ein Zeichen des Widerstands im Kleinen»: Neda Amani spielt beim FC Fortuna in Olten.

Lucia Hunziker / Ringier Axel Springer Schweiz

Die Oltnerin kämpft für ein Land, dessen Duft sie noch nie gerochen hat, für Menschen, die sie nur von Bildern oder über Social Media kennt. Wie geht das zusammen? «Mein Vater sagt immer, ich hätte sein Revoluzzer-Blut geerbt», sagt Neda. «Der Sinn für Gerechtigkeit ist einfach tief in mir drin.» Darum macht sie alles, um die Demonstrierenden auf den Strassen Irans zu unterstützen: fasst Inhaftierte und Hingerichtete in Namen und Zahlen, analysiert Videos auf Social Media. «Diesmal sind die Proteste anders», sagt sie. «Frauen und Männer aus allen Schichten begehren auf. Es geht um die Freiheit aller!» Kritik übt sie an der Schweizer Regierung: «Sie muss endlich härtere Massnahmen ergreifen.»

Beim Verabschieden sagt Neda Amani, sie sei überzeugt, dass sie das Land ihrer Eltern kennenlernen werde, «bald, ganz bald». Bis dahin wird sie noch jede Menge Schwarztee trinken, ein Schluck fremde Heimat, Tag für Tag.

Von Michelle Schwarzenbach am 22. Oktober 2022 - 08:03 Uhr