«13 Jahr im ’45i, bi ufgwachse imne Dorf. Hamer 716 mau aaglost i bi ne Aff.» Mit diesen Zeilen beginnt Nativs Lied «Noir». ’45 kommt von 3145, der Postleitzahl von Niederscherli, einem Berner Vorort mit 2300 Einwohnern. Hier wächst Thierry Gnahoré, 26, alias Nativ auf. In diesem Song erzählt der Rapper, wie es ist, als Sohn eines schwarzen Vaters und einer weissen Mutter in der Schweiz aufzuwachsen. Und darüber, wie der Alltagsrassismus sein Leben geprägt hat.
«Trotzdem hatte ich eine schöne Kindheit», sagt Gnahoré mit breitem Berner Dialekt. Der Musiker ist eine eindrückliche Erscheinung. Er ist zwei Meter gross und spricht mit ruhiger, tiefer Stimme. Er sitzt auf einem schwarzen Stuhl in seinem Bieler Studio und wippt leicht mit dem linken Bein. Bevor er etwas sagt, überlegt er jeweils einen Augenblick lang.
Thierry Gnahoré wächst mit seiner fünf Jahre älteren Schwester und seiner Mutter auf. Der Vater verlässt die Familie, als er sieben Jahre alt ist, lebt aber lange in der Nachbarsgemeinde, Kontakt halten sie nur sporadisch. Die Grossmutter hütet ihn häufig, weil die Mutter viel arbeitet – als Sekretärin in einem Institut für Biomechanik.
Im Dorf fallen die Geschwister als schwarze Kinder auf. In der Schule fühlt er sich deswegen nicht immer wohl. «Ich hatte Angst, nicht so gut zu sein wie die weissen Kinder.» Zu spüren bekam er das nicht nur von Mitschülerinnen und Mitschülern. «‹Neger› hörte ich immer wieder, einmal sogar von einer Aushilfslehrerin.» Er wächst in einem Block auf, nicht in einem Haus wie die meisten Klassenkameraden. Freunde lädt er deshalb ungern ein. «Sie sollten nicht denken, dass wir arm sind.» Als Gnahoré 15 Jahre alt ist, zieht die Familie nach Bern in die Stadt.
«I bi nid wiiss, i bi nid schwarz, i bi öpis zwüschedrinn. U säg ni, söu ni so tue wöu du weisch gar nid wie ds isch»
Sein Vater wuchs in der Elfenbeinküste auf, seine Mutter in der Schweiz. Das Leben zwischen Schwarz und Weiss taucht immer wieder in Gnahorés Liedern auf. Als die Familie nach Bern zieht, findet er schnell neue Freunde. «Ich nahm an antirassistischen Demonstrationen teil und ging oft in die Reitschule.» Einmal wird er bei einer Demo verhaftet.
«Je dunkler deine Haut ist, desto stärker schlägt dir der Rassismus entgegen»
Nativ
«Heute werde ich immer wieder von der Polizei kontrolliert, etwa als ich mal meine Grossmutter besuchen wollte. Ich spürte die Blicke der anderen, während ich meinen Ausweis zeigte. Ich bin es leid, wegen meiner Hautfarbe beweisen zu müssen, dass ich nicht böse bin.»
Nach der Schule macht Gnahoré eine kaufmännische Lehre bei der SP Schweiz. Danach arbeitet er im Büro bei der Berner Stadtverwaltung. Mit Parteien hat er heute nichts mehr am Hut. «Die meisten Parteien sind zu inkonsequent. Denen gehts nur darum, wiedergewählt zu werden.»
Die Musik spielt immer eine grosse Rolle in seinem Leben. Mit sechs Jahren musiziert er bereits auf der Djembe, einer afrikanischen Bechertrommel. Er beginnt mit neun Jahren Hip-Hop zu hören und schreibt mit elf seine ersten Reime.
Bekanntheit erlangt Gnahoré zunächst nicht mit seiner Musik, sondern durch ein Skandal-Selfie. 2015 trifft er in Bern den damaligen französischen Präsidenten François Hollande. Auf einem Selfie mit dem Staatsoberhaupt zeigt der Rapper den Mittelfinger. Das Bild erscheint in zahlreichen Zeitungen. Später taucht Gnahoré wieder in den Schlagzeilen auf: Er könnte dank eines Stipendiums der Stadt Bern ein halbes Jahr in den USA an seiner Musik arbeiten. Doch der Rapper darf nicht einreisen, weil er als 18-Jähriger einmal mit Marihuana erwischt wurde.
«Us dr Vagina vo mire Mer sägi, wesi frage, vo wo dasi chum»: So unverblümt erklärt der Rapper im Lied «Sanspapier» seine Herkunft. Der Song ist auf dem Album «Baobab», das 2018 direkt auf Platz drei der Schweizer Albumcharts landet. Die SRF-Virus-Sendung «Bounce» kürt es zum Album des Jahres. Nativ feiert seinen grossen Durchbruch! Sein Rapperkollege Manillio sagt: «In meinen 15 Jahren im Mundart-Rap hat mich selten ein Künstler so beeindruckt wie Nativ. Sein ‹Baobab› finde ich eines der wichtigsten und besten Schweizer Kunstwerke der letzten Jahre. Thierry ist ein Guter und hat das Herz am rechten Fleck.»
Heute ist Gnahoré einer der wichtigsten Hip-Hop-Künstler der Schweiz. Das Magazin «Lyrics» zählt ihn zu den besten Rappern des Landes. Als Solokünstler veröffentlicht er vier Alben und unzählige Singles, mit anderen Künstlern arbeitet er regelmässig zusammen. Soulsänger Seven, mit dem er die Single «Aber Wohi?» aufnahm, sagt: «Nativ hat etwas zu sagen und braucht seine Stimme für mehr als Musik. Für mich ist er einer der glaubwürdigsten Künstler, er hat keine Angst, zu sagen, was er denkt, und zu tun, was er fühlt.»
Gnahorés Texte sind fast immer sozialkritisch. Er engagiert sich für minderjährige Asylsuchende, die ohne Familie flüchteten, und er setzt sich für die Evakuierung des griechischen Flüchtlingslagers Moria ein. Seine Single «Los» verkauft er für zehn Franken und spendet den gesamten Erlös. Die Lebensumstände von Geflüchteten beschäftigen ihn sehr. «Das habe ich von meiner Mutter, sie hat Asylsuchende aufgenommen.»
2017 hängt der Rapper seinen Bürojob an den Nagel und zieht nach Biel. «Meine Mutter hat mich bei allem immer unterstützt, auch wenn sie sich zu Beginn noch nicht vorstellen konnte, dass man in der Schweiz von Musik leben kann.» Im Gegensatz zu vielen Künstlern hat er kein Label hinter sich. Er fährt jeden Morgen ins Studio. «Ich arbeite bis zwölf Uhr, esse Zmittag im Coop-Restaurant und kehre dann zurück.»
Wegen Corona fällt seine Tour im Frühjahr ins Wasser, die Gagen bleiben aus. «Das war ein Schock, weil ich mit diesen Einnahmen gerechnet hatte. Ich gab in den letzten Wochen so wenig Geld aus wie möglich – eigentlich nur für Essen und Miete.» Den Lockdown verbringt er mit seiner Familie. «Die Zeit mit meiner Mutter tat mir gut. Mir wurde bewusst, dass wir sehr privilegiert sind, weil wir alles haben, was wir brauchen.»
«Es git no viel ds entdecke. I weiss ni, wo mini Reis wird ende.»
Im Song «Vagabond» geht es um Fernweh, um die Suche nach dem Unbekannten. Der Videoclip dazu entsteht 2019 in seiner zweiten Heimat, der Elfenbeinküste. «Ich reiste mit ein paar Freunden da hin. Es war schön, ihnen zu zeigen, woher ein Teil von mir kommt.»
Er nutzt die Gelegenheit, seinen älteren Halbbruder zu besuchen, der dort lebt. «Ihm geht es finanziell schlecht. Ich schicke ihm ab und an Geld.» Es sei eine verzwickte Situation, weil er wolle, dass sein Bruder selbstständig ist. «Er denkt, ich hätte immer Geld, er versteht nicht, dass bei uns am Ende des Monats auch nicht immer viel übrig bleibt.» Er hofft, seinem Bruder bald einmal sein Leben hier zeigen zu können.
«Hüt isch e guete Tag für ne Change. I ha ke Zuekunftsplän, wüu i weiss: Losi nur ufs Herz, bini safe.»
Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd gehen im Juni Tausende auf die Strasse. Auch in der Schweiz protestieren Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Eine Frau streckt bei einer Demo in Bern ein Plakat in die Luft mit der Aufschrift: «Hüt isch e guete Tag für ne Change.» Ein Zitat von Gnahorés Song «Sira». Auch der Rapper nimmt an der Demo teil. «Es war sehr emotional für mich. Ich bekam Hoffnung, dass sich etwas ändern kann.»
Doch der Alltagsrassismus ist nicht verschwunden. Wenn Thierry Gnahoré Bus fährt, bleibt der Sitz neben ihm oft leer. «Kaum jemand setzt sich neben mich. Das macht mich schon traurig.» Immer wieder werde er auf Hochdeutsch angesprochen oder auf der Gasse gefragt, ob er Gras oder andere Drogen verkaufe. «Ich bin es leid. Aber nach all den Jahren bin ich etwas abgestumpft.» Trotzdem glaube er, dass er es als Sohn einer weissen Frau einfacher habe, als wenn beide Eltern schwarz sind. «Je dunkler deine Haut ist, desto stärker schlägt dir der Rassismus entgegen.»
Von seiner Mutter lernte er, dass Liebe der Weg ist. «Ich hasse Rassisten nicht. Ich denke, sie haben Angst vor dem Unbekannten. Das muss frustrierend sein. Deshalb bemitleide ich sie nur. Denn ich weiss, es liegt nicht an mir.»