Hoch über Kägiswil OW reicht der Blick bis zum Alpnachersee, das Stanserhorn liegt in den Wolken. Auf dem Bänkli ein Kranz mit getrockneten Blumen und zwei Grabkerzen. «Hier oben verlangsamt sich alles. Man bekommt eine andere Perspektive», sagt Jeannine Gmelin (32). Auch deshalb sass sie immer wieder mit ihrem Lebenspartner und Trainer Robin Dowell (40) hier, er war ein Tüftler, der die Dinge gern von verschiedenen Seiten betrachtete.
Heute kann Gmelin an diesem Ort ein paar 100 Meter neben ihrer Wohnung eine gewisse Nähe zu Dowell aufbauen, sechs Monate nach seinem Tod, wobei Gmelin immer vom «16. Dezember» spricht. Sie ruderte im Einer, er begleitete sie als Coach, als sie bemerkte, dass sein Motorboot merkwürdig im Wasser liegt. Was genau passiert ist, ist bis heute unklar. Jedenfalls schwimmt Gmelin durchs drei Grad kalte Wasser zu ihm, beginnt Robin wiederzubeleben, doch ohne Erfolg.
Als Gmelin nun auf der Bank sitzt, kommen ein paar neugierige Kühe näher, recken ihre Köpfe über den Holzzaun, versuchen, sie abzulecken. Auf den Armen von Jeannines Schwester Angelina (29) quietscht die zweijährige Emilia. Jeannine lacht. Dieser Kontrast ist zurzeit überall. «Der Gegensatz ist manchmal krass. Wie traurig du bist und dennoch Freude oder Glück empfinden kannst», erzählt Gmelin. «Das wusste ich vorher nicht. Ich dachte, es gebe in der Trauer nur entweder oder.»
«Ich suche immer den strengsten Weg»
Gmelin war in ihrem Sport lange eine Einzelkämpferin, bezeichnete sich früher schon fast als Einzelgängerin. Ernst, diszipliniert, hart im Nehmen. Oft standen ihr Hindernisse im Weg, die sie dann doch alle bewältigte. An Tagen, an denen der Schmerz um den Verlust besonders gross ist und sie nicht weiss, was sie mit ihrem Leben machen soll, das sie sich so anders vorgestellt hat, ruft sie sich diesen Umstand ins Gedächtnis. «Mein Urinstinkt sagt mir dann: Ich suche immer den strengsten Weg, weil ich das Gefühl habe, ich lerne dann am meisten. Aber manchmal ist es einfach scheisse.»
Als Sportlerin führt sie ihre Zielstrebigkeit zum Erfolg: Weltmeisterin 2017, eine Siegesserie im Skiff, Olympia-Fünfte 2016 und 2021. Als der Brite Robin Dowell 2017 als Headcoach des Schweizer Ruderverbands übernimmt, empfinden die beiden vom ersten Moment an einen tiefen Respekt füreinander. Im Laufe der Zeit werden sie mehr als Trainer und Athletin, sie sind «Soulmates for life», Inspiration, beste Freunde, gegenseitige Vorbilder. «Robin war ein aussergewöhnlicher Mensch.»
Dowell hatte ein gutes Menschengespür, fand sofort Zugang zu allen. Auch Jeannines jüngere Schwester Angelina empfand dies so, die kleine Emilia und Robin seien «beste Freunde» gewesen. Als Emilia vor zwei Jahren geboren wurde, ging das Paar so oft vorbei, wie es der Spitzensport-Zeitplan erlaubte. So wurde Robin zu einer engen Bezugsperson für das Mädchen. Als Robin starb, zog Angelina mit ihrer Tochter sofort bei Jeannine ein. «Das war so viel wert», hält diese fest. «Sie erledigte einfach, ohne zu fragen, die grundlegenden Dinge wie Kochen. Ich hatte null Appetit, keine Kapazitäten für die überlebenswichtigen Dinge.» Am ersten Morgen nach dem Unfall rief Emilia dreimal nach «Tätti», wie sie Robin nannte – sie schien zu merken, dass etwas anders war. Gingen die Schwestern zum See und zündeten dort Kerzen an, wischte Emilia den beiden mit ihren Händchen die Tränen vom Gesicht.
Aus Schwestern werden beste Freundinnen
Eine gute Beziehung hatten die Schwestern vorher schon, sahen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Leben jedoch nicht so oft. Durch die intensive Zeit nach Robins Tod, die langen Gespräche, wenn Jeannine nicht schlafen konnte, erhielt ihre Beziehung eine andere Tiefe. Die lautere und offene Angelina und die ruhigere, zurückhaltendere Jeannine wurden beste Freundinnen – wie es ihre beiden Brüder seit Jahren sind. Und «wie wir es uns eigentlich schon immer gewünscht hatten», sagt Jeannine, die Älteste des Quartetts aus Uster ZH.
In der ersten Phase der Trauer, als Angelina sich um sie kümmerte, machte Jeannine etwas, das für sie ungewohnt war. «Ich wusste: Ich muss mir Raum und Zeit geben.» Als Sportlerin hatte sie alles dem Erfolg untergeordnet. «Nun ging es um meine Bedürfnisse, und diese Zeit nahm ich mir.»
Sie zieht sich in ihre Wohnung hoch über Kägiswil zurück, umgeben von Natur. Redet mit ihrer Familie, mit Menschen, die ihr geschrieben haben. Und merkt, dass sie sich nie mit Trauer auseinandergesetzt hat, in der Literatur nicht viel Konkretes findet. Es ist mit ein Grund, weshalb sie heute so offen über diesen Prozess spricht. «Ich finde, das Thema wird verdrängt. Wenn ich damit jemandem helfen kann, schön! Und wenn nicht, hilft es zumindest mir.»
Der Schmerz frisst die Energie
Manchmal, wenn ihr gerade danach ist, schreibt sie Robin. Er hatte sie immer dazu ermuntert, ein Tagebuch zu führen, worauf sie antwortete: «Wieso? Ich teile ja alles mit dir.» Heute schreibt sie ihm, auch wenn sie spürt, dass er bei ihr ist. «Als hätte ich eine Hand auf meiner Schulter.» Ihre tiefe Verbundenheit war für sie etwas Einzigartiges, «auch wenn es dafür ja kein Gütesiegel gibt». Und sie trauert nicht nur um die verlorene gemeinsame Zukunft, sondern auch, weil er seine Weisheit nicht mehr weitergeben kann und Emilia ihr Vorbild nicht mehr hat.
Sechs Monate nach der Trennung spürt Gmelin erste kleine Veränderungen, der Appetit etwa hat sich wieder eingependelt. Leichter wird es noch nicht, aber andere Dinge des Lebens bekommen wieder ein wenig Raum. Zum Beispiel der Sport. Monatelang war der Gedanke an ein anstrengendes Training für die ehemalige Top-Athletin unmöglich. Der Schmerz verschlang ihre ganze Energie. «Dass ich mir physisch zusätzliche Schmerzen zufügte, stand ausser Frage.» Nun ändert sich das langsam wieder; sie rudert nicht, aber geht joggen, fährt Velo oder macht Krafttraining.
«Ich möchte Menschen begleiten»
Und sie beschäftigt sich mit dem Gedanken, wohin ihr Weg nach dem Rücktritt vom Spitzensport im vergangenen Januar führen könnte. Eini-ge kleinere und grössere Sachen hat sie bereits gemacht, leitet im See-Club Luzern Trainings, hat eine Ausbildung als Integralcoach angefangen, eine Art Lifecoach. «Ich möchte Menschen begleiten, die in einem herausfordernden Prozess stecken oder weiterkommen, sich entwickeln wollen.» Es gefällt ihr – ob sie wirklich in diesem Feld arbeiten möchte, lässt sie sich offen.
Fix aber wird sie an der Lucerne Regatta mit ihrer Schwester Angelina und Robins Schwester Megan ein Kaffee-Pop-up führen. Es war der Traum des Hobby-Barista Robin, den sie nun in seinem Namen umsetzen. «Rob’s Hood» wird vom 5. bis 9. Juli am Ufer des Rotsees stehen. Dann wird Robin ein Wochenende lang nicht nur ganz nah bei Jeannine sein, sondern bei seiner ganzen geliebten Ruderwelt.