Es sind Worte, die Ruedi Lüthy (83) den Abschied aus seinem geliebten Afrika ein bisschen einfacher machen. Die zeigen, dass sein Lebenswerk Früchte trägt. «Dank Ihnen bin ich wieder gesund», antwortet Patience Jackson auf Lüthys Frage, wie es ihr geht. Die 52-Jährige und ihr Enkel Brian (5) wohnen in einem nahen Armenviertel. Für die Untersuchung in Ruedi Lüthys Newlands Clinic in Simbabwes Hauptstadt Harare haben sie ihre besten Kleider angezogen. Vor 20 Jahren war Patience Jackson das erste Mal hier, als HIV-Patientin: von Krankheit gezeichnet, dem Tode nah. In der Klinik-Apotheke erhielt sie Medikamente gegen das tödliche Virus. «Hier wird ein Patient als Mensch respektiert. Und man wird untersucht, ohne zahlen zu müssen», sagt Jackson. Die Behandlung in einem privaten Spital im bitterarmen Simbabwe kann sich nur die kleine reiche Oberschicht leisten, die öffentlichen Spitäler sind in desolatem Zustand.
Alle sechs Monate kommt Jackson zur Kontrolle, erhält Tabletten. Auch ihre Tochter ist HIV-positiv. Doch dank der Behandlung hat sich das Virus nicht auf deren Kind übertragen: Brian kam gesund zur Welt. «Ihre Klinik hat uns das Leben gerettet», sagt Patience Jackson. Ihr Enkel schaut scheu zu Ruedi Lüthy hoch, dann flüstert er: Mazvita – danke.
Eine 20-stündige Reise hat Ruedi Lüthy hinter sich – von seinem Wohnort Muntelier FR in die Hauptstadt des von Korruption zerfressenen Landes im Süden Afrikas. Zum letzten Mal ist Ruedi Lüthy für ein paar Tage nach Harare gekommen, um das 20-Jahr-Jubiläum seines Lebenswerks zu feiern.
Bevor Lüthy in Afrika aktiv wird, arbeitet er als Professor für Innere Medizin und Infektionskrankheiten am Unispital Zürich, ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für Aids Fragen. Als er 2003 hört, wie viele Menschen in Simbabwe an Aids sterben, sagt er sich: «Da muss ich helfen!» 2004 eröffnen er und seine Frau Rosy (85) die ambulante Newlands Clinic. Kurze Zeit später wird der Zürcher AidsTherapie-Spezialist bei den Swiss Awards als Sieger der Kategorie Gesellschaft aus gezeichnet. Bis 2022 leben er und Rosy meist in Harare und arbeiten in seiner auf Spenden angewiesenen Klinik.
«Hier in der Klinik wird ein Patient als Mensch respektiert»
Patience Jackson, Patientin
Es ist 38 Grad heiss, Lüthy wischt sich den Schweiss von der Stirn. Er sitzt im Festzelt neben der Klinik, an seiner Seite Tochter Sabine (54) Geschäftsführerin der Ruedi Lüthy Foundation, und Sohn Philipp (46). Alle 85 Klinik Mitarbeitenden sind da. Ein hoher Vertreter des Gesundheitsministeriums lobt Lüthy als selbstlosen Macher mit unglaublicher Energie. «Unser Land hat Ihnen viel zu verdanken!» Über 8000 Patientinnen und Patienten be handelt die Klinik. Hunderte Familien unterstützt sie mit Nahrungsmitteln, 1000 lokale Ärzte und Pflegefachleute bildet sie jährlich aus. 23'000 Einheimische sterben jedes Jahr an Aids.
Der Kampf dagegen fordert seinen Preis. Tochter Sabine: «Mein Vater hat sich sein ganzes Leben für seine Patienten eingesetzt. Meine Mutter hat sich ab und zu mehr Zeit und Aufmerksamkeit von ihm gewünscht.» Lüthy sei unbestechlich und zielorientiert. «In Afrika wurde seine Persönlichkeit weicher. Doch er war oft frustriert ob der Ungerechtigkeit und Armut.»
Das neue Leitungsteam der Klinik besteht aus zwei Ärzten und einem Manager, die schon lange dabei sind. «Mit ihnen ist die Klinik in guten Händen», sagt Lüthy beim Apéro zu HansUeli «Jöggi» Rihs, 80. Der Zürcher Unternehmer und YB-Besitzer ist als treuer Unterstützer der Klinik angereist. Heute trifft er HIV-Patient Tinashe, den er bei seinem ersten Besuch kennen gelernt hat. Tinashe leidet an einer Wachstumsstörung, und Rihs kommt für seine Hormontherapie auf. Er sei nun 1,51 Meter gross und mache eine IT-Lehre, berichtet der 19-Jährige stolz.
Zwei Tage nach dem Jubiläumsfest fahren Ruedi und Sabine Lüthy nach Hatcliffe – ein Slum am Rand von Ha-rare. Sie wollen wissen, wie es Patientin Patricia Zuze geht. Die von ihrem Mann verlassene Frau lebt mit vier Kindern in einem notdürftig abgedeckten Ver schlag. «Ich habe meine Menschen würde wieder», erzählt die 42-Jährige. Früher arbeitslos, produziert sie nun dank dem Frauenförderungsprogramm der Klinik Erdnussbutter und verkauft sie auf dem Markt. «Nun können meine Kinder wieder zur Schule.»
«Vor lauter Arbeit ist viel Lebensfreude an mir vorbeigegangen»
Ruedi Lüthy
Zuvor bezahlte Patricia Zuze die Schulkosten mit dem Verkauf von etwas Mais, der in ihrem kleinen Garten wächst. Doch seit zwei Jahren fällt die Ernte immer spärlicher aus. «Es regnet fast nicht mehr. Der Klimawandel», sagt Lüthy auf der Heimfahrt. «Bald gibt es eine Hungersnot.» Besonders für HIV-Patienten ist das fatal: Ihre Medikamente regen den Appetit an. Und wer nichts zu essen hat, nimmt die Tabletten nicht mehr. «Wir müssen noch mehr Nahrungsmittel abgeben! Es ist ein Fass ohne Boden.»
Erschöpft sitzt Ruedi Lüthy in seiner Stube. «Die Zeit in Afrika war das grösste Abenteuer meines Lebens.» Freude und Leid würden leicht in ihn eindringen. «Vor lauter Arbeit ist viel Lebensfreude an mir vorbeigegangen.» Das Leid, die strenge Arbeit: «Das alles hat mich stark gefordert. Manchmal zu stark. Doch ich habe einen sturen Kopf und einen langen Atem. Die Patienten haben mir Kraft gegeben.»
Byebye, Afrika! Der Abschied fällt Lüthy schwer. Tags zuvor war er bei den Balancing Rocks – riesige, durch Ero sion geformte Felsskulpturen. «Ein Kraftort. Ich habe ihn oft besucht.» Nun freut er sich auf seine Rosy, das Haus am Murtensee. «Wir haben es gut zusammen.» Manchmal plagen ihn Bedenken, in ein Loch zu fallen. «Rosy hat mir vorgeworfen, mich nur für Medizin zu interessieren. Sie hat recht.» Seine grösste Freude seien seine Fami lie und das Leben als Pensionierter. «Es bringt so viele Möglichkeiten.»
Lüthy schaut hinaus zu den Papayasträuchern, krault seinen fast tauben Hund Danger. «Ich habe Phasen depressiver Verstimmung. Doch ich spüre immer besser, wenn etwas im Anzug ist. Dann sage ich: Nein, jetzt nicht! Es gelingt nicht immer. Doch oft genug, dass ich sagen kann: Mein Leben war gut.»