Das Glück ist klein, braun und schrumpelig. Um ein Haar wäre Sabine Reber, 52, draufgetrampelt. Aber da die Gartenbuchautorin auf der Suche nach essbaren Wildpflanzen am Waldrand stets den Blick auf den Boden richtet, sind ihr die Erhebungen im Humus aufgefallen. Morchelköpfe! «Die trocknen wir. Das gibt ein feines Sösseli!», freut sich ihr Partner Pascal Stern, 58, und holt den Schnitzer hervor, den er für solche Gelegenheiten dabeihat. Beide tragen eine Handvoll Pilze nach Hause, später kommen sie mit einer Schüssel wieder, um den Rest zu sammeln.
Der Fundort liegt oberhalb von Gstaad BE, wo Sabine Reber auf 1300 Metern über Meer einen Alpengarten pflegt. «Ein richtiger Glücksort hier. Aber den genauen Standort dürft ihr nicht verraten, sonst wimmelt es bald von Pilzsammlern», sagt sie mit einem Augenzwinkern. Es ist eine Anspielung auf ihr neuestes Buch, «Glücksorte im Berner Oberland», das soeben in einer internationalen Reihe von Reiseführern im Droste-Verlag erschienen ist. In diesem kleinen Führer stellt sie zusammen mit Co-Autorin Blanca Burri 80 Orte in ihrer Wahlheimat vor, an denen sie Glücksgefühle empfindet.
Vor vier Jahren ist die ehemalige Grünen-Nationalratskandidatin mit ihrer Tochter Jeanne Rose, 15, von Biel in die Voralpen gezogen. Ihr Ziel: unter raueren Bedingungen als im milden Seeland herauszufinden, wie sich das Gärtnern mit dem Klimawandel vereinbaren lässt. Das Mutter-Tochter-Gespann bewohnt den zweiten Stock eines Saanenländer Bauernhauses. Die Wohnung bietet keinen Luxus, dafür Charme. In der Küche steht ein russiger Feuerherd. Vom Fenster aus blickt Sabine Reber aufs berühmte Hotel Gstaad Palace hinunter.
Ihr Vermieter, ein Milchbauer, bringt jeweils den selbst gemachten Käse hoch, zu dem Sabine und Jeanne Rose Sauerteigbrot backen. Sie haben gemeinsam in einem Kurs gelernt, wie man den fortwährend gärenden Teig kultiviert. Nun arbeiten sie an der perfekten Kruste.
Und zuunterst im Haus wohnen die Kühe. Vor drei Wochen ist Kälbli Thea zur Welt gekommen, mit dem Sabine Reber gerne rumalbert. Kurzum: «Es wimmelt von kleinem Alltagsglück hier.»
Die Suche nach dem Glück ist während des Schreibprozesses für ihr neuestes Buch zu Sabine Rebers Steckenpferd geworden. Nicht nach dem grossen Glück, das werde überschätzt, ist die Autorin überzeugt.
«Wer auf den Prinzen samt Schloss wartet, wird ein Leben lang enttäuscht.»
Sabine Reber, Autorin
«Wer auf den Prinzen samt Schloss wartet, wird ein Leben lang enttäuscht.» Darum hat sie sich vor einem Jahr auch nicht in einen Prinzen verliebt, sondern in Pascal. «Er kommt immerhin aus einer Gärtner--Dynastie», sagt sie und lacht. Er ist der Sohn des renommierten Zürcher Garten- und Landschaftsarchitekten Christian Stern. «Sein theoretisches Pflanzenwissen lässt sich super mit meiner praktischen Erfahrung kombinieren. Und er hat Ausdauer.»
Einen grünen Daumen und einen langen Atem braucht auch, wer in -Sabine Rebers Leben mithalten will. Am Vortag hat das Paar acht Stunden am Stück den Garten gejätet. An freien Tagen zieht es sie oft auf eine Ski- oder Wandertour. Auch am Glücksbuch hat Pascal mitgewirkt. Als Geograf und Wanderleiter brachte er die perfekten Voraussetzungen mit, um eine Karte für den Reiseführer zu gestalten.
«Glück ist kein Dauerzustand, sondern ein Prozess.»
Sabine Reber
Fürs pure Liebesglück seien sie beide aber zu stiere Dickschädel, meinen Sabine und Pascal. «Bei uns chlepfts auch mal, und das ist gut so.» Glück sei sowieso kein Dauerzustand, sondern ein Prozess. Wer Glück wirklich spüren wolle, müsse auch das Unglück kennen. Davon gibts in Sabine Rebers Leben genug. In jungen Jahren wandert sie zu ihrer Liebe nach Irland aus und kehrt mit gebrochenem Herzen wieder heim. Dann heiratet sie den Vater ihrer Tochter und lässt sich, als diese noch im Kleinkindalter ist, von ihm scheiden. Die Männer an ihrer Seite wechseln, im Grossen und Ganzen zieht sie Jeanne Rose allein gross. «Das war richtig hart. Unsere Gesellschaft und ihre Strukturen sind nicht auf alleinerziehende, berufstätige Mütter ausgerichtet.»
Der Volksmund habe recht, sagt sie, während sie am Küchentisch die Morcheln putzt, man könne sich sein Glück «ä Bitz wiit» selber schmieden. Wie als Beweis dafür hält Sabine Reber ihr Knie in die Höhe. Es ist mit Narben übersät und «tut manchmal höllisch weh». Sie hat es im Alter von 16 Jahren bei einem Skiunfall zertrümmert. «Der Arzt meinte damals, bis auf Après-Ski könne ich mir diesen Sport abschminken.» Doch Sabine Reber träumt davon, wieder auf zwei Brettern einen Hang hinunterzusausen. Vor fünf Jahren nimmt sie den Traum in Angriff. «Ich hörte mit dem Rauchen auf – von täglich zwei Päckchen auf null – und begann, mit Krafttraining meine Beine zu stärken.» Nun liegen wieder ganz-tägige Skitouren drin. «Vor zwei Jahren stand ich sogar ganz oben auf dem Mönch. Das geht schon Richtung grosses Glück.»
Oft ist Pascal Stern auf den Touren mit dabei. Er wohnt zwar in Biel, besucht Sabine und ihre Tochter jedoch regelmässig im Oberland. «Sie verstehen sich ausgezeichnet», sagt Sabine. «Wobei man sagen muss, dass er die anstrengenden ersten 14 Jahre verpasst hat und jetzt in ein recht gut eingependeltes Familienleben einsteigen kann.»
Beide lachen und offenbaren neben Wanderlust und Gartenfieber eine weitere Gemeinsamkeit. Die Lebenserfahrung zeigt sich bei Sabine wie bei Pascal in Form von Falten um die Augen. Die entstehen, wenn man viel lacht. Oder wenn man die Augen zusammenkneift, um das kleine Glück am Wegesrand zu erkennen.