Er ist eine Maschine: 120 Kilogramm, verteilt auf 1,94 Meter Körpergrösse. Dazu hat Schwinger Samuel Giger, 23, solch muskulöse Oberarme und Oberschenkel, dass seine Füsse mit Schuhgrösse 48 im Vergleich geradezu klein erscheinen. In seinem Job hat er es mit noch grösseren Maschinen zu tun: Erst lädt Giger mit dem Lastwagen seine Fuhr auf einem Berg voller Abbruchbeton ab. Dann manövriert er den fast 20 Tonnen schweren Radlader mühelos im Recyclinghof in Bürglen TG umher und füllt die Lastwagenmulde mit Schutt. Schliesslich fährt er den Raupenbagger auf den angehängten Tieflader. «Ich merke schon, dass meine Muskeln noch ein bisschen müde sind», sagt Giger am Dienstagmorgen, während er den Bagger mit schweren Eisenketten befestigt.
Der Sieg fordert Giger physisch und mental alles ab
«Manne, a d Arbet», hiess es schon drei Tage zuvor für Giger und seine Kollegen – im Schwingjargon wird von Arbeit gesprochen, wenn die Schwinger ihren Sport ausüben. Der vergangene Samstag war ein äusserst erfolgreicher Arbeitstag für Giger! Er gewinnt den Kilchberger Schwinget und darf damit seinen grössten Karriere-Triumph feiern. Das Fest in der Zürcher Gemeinde findet alle sechs Jahre statt und gehört neben dem Eidgenössischen und dem Unspunnen zu den drei wichtigsten Wettkämpfen im Schwingen. Der Kilchberg-Sieg fordert Giger physisch und mental alles ab. Umso grösser ist die Freude, als er König Wenger Kilian im Schlussgang bodigt. Giger ballt die Fäuste und lässt sich von seinen Verbandskollegen schultern.
«Es ist für mich eine Genugtuung, dass ich es nun geschafft habe»
Samuel Giger
Schlaf gibts in den Nächten darauf wenig – ein bisschen feiern liegt auch bei einem Spitzensportler drin. Doch am Montag geht Giger bereits wieder seiner Arbeit als Lastwagenchauffeur nach. «Ich mache meinen Job ja gerne, wieso sollte ich freinehmen?», sagt Giger, der ursprünglich Zimmermann lernte und nun zu 80 Prozent bei der Abbruchfirma Haffa Rück- und Tiefbau angestellt ist. Die Strapazen der Saison sind ihm nicht anzusehen. Im Gegenteil: Er wirkt erleichtert. Das äussert sich etwa darin, dass der Thurgauer aus Ottoberg, der nur zu ausgewählten Zeitpunkten Interviews gibt, ziemlich gesprächig ist. «Ich spüre eine grosse innere Zufriedenheit.»
Premiere: Drei Sieger durften sich feiern lassen
Auf dem Stockengut zu Kilchberg durften sich am Samstag zwei weitere Schwinger feiern lassen: Gigers Nordostschweizer Kollege Ott Damian und der Berner Staudenmann Fabian, beide 21, erreichten ebenfalls die Höchstpunktzahl und sind Kilchberg-Sieger. In der 17. Austragung des Fests ist der Mehrfach-Triumph eine Premiere.
Während Giger mit zuvor sieben Saisonsiegen an neun Schwingfesten Topfavorit war, kommen die Siege von Ott und Staudenmann nicht total überraschend, aber früher als erwartet. Ott, der mit sieben Geschwistern in einer Bauernfamilie in Dreien SG aufgewachsen ist, hat zuvor sensationell an den Bergfesten auf dem Weissenstein und am Schwarzsee obenaus geschwungen. Der steile Aufstieg verdankt er unter anderem der intensiven Arbeit im Kraftraum, bei der er auf Coach Robin Städler vertraut, der früher König Jörg Abderhalden stählte. Zimmermann Ott stammt aus einer Sportlerfamilie – Schwester Petra ist U23-Weltmeisterin im Seilziehen – und absolvierte bereits mit sechs Jahren sein erstes Jungschwinger-Training.
Anders bei Gewinner Fabian Staudenmann aus Guggisberg BE. Er ist in Sachen Sport ein Spätzünder. Als Kind schmächtig gebaut und eher unsportlich, ändert ein Fernseh-Moment 2010 alles: Als Wenger Schwingerkönig wird, fasziniert das den damals zehnjährigen Fabian so sehr, dass er kurz darauf selber im Sägemehl steht. Neun Jahre später ist der 1,91 Meter grosse und 110 Kilo schwere Athlet selber ein Böser, heuer gewinnt er sein erstes Kranzfest, das Mittelländische, und bezwingt dabei gleich noch sein Idol Wenger. Und mit dem aktuellen Erfolg gehört der Mediamatiker, der noch die Berufsmatura macht, bereits zu einem erlauchten Kreis.
152 Sekunden fehlten am Eidgenössischen zur Krönung
Dass Samuel Giger seinen bisher grössten Sieg teilen muss, schmälert seine Leistung nicht. «Es ist für mich eine Genugtuung, dass ich es nun geschafft habe.» Hintergrund dieser Aussage: Giger ist zwar erst 23 Jahre alt, aber bereits ein alter Hase im Sägemehl. Als 16-Jähriger schwingt er sich als grosses Talent ins Rampenlicht, darf 2014 gar in Kilchberg antreten. Dass ein so Junger schon dabei ist, «so etwas gibt es nur alle 50 oder 100 Jahre», sagt Kilian Wenger damals. Ein Jahr später holt Giger seinen ersten Kranzfestsieg. Die folgenden Jahre sammelt er Kränze und reiht Sieg um Sieg – an Festen mit nationalem Charakter räumen aber andere ab. Am Eidgenössischen in Estavayer schrammt er knapp an der Sensation vorbei. 152 Sekunden fehlen ihm zur Krönung: Bei einem Gestellten im Schlussgang zwischen Armon Orlik und Matthias Glarner hätte er den Sieg geerbt.
«Ich mache meinen Job ja gerne, wieso sollte ich freinehmen?»
Samuel Giger
Die frühe mediale Aufmerksamkeit behagt Giger nicht. «Es ging alles so schnell, dass mich das ein bisschen abgeschreckt hat.» Deswegen verzichtet er lange auf lukrative Sponsoringverträge, hat erst seit vergangenem Jahr Partner und Social-Media-Kanäle. «Ich hatte Bedenken, dass ich den Verpflichtungen nicht nachkommen kann, vor allem noch während der Lehre», so Giger. «Ich wollte mich zuerst reif genug fühlen. Das tue ich nun.» Seine restriktive Haltung in diesem Bereich sorgte zwar immer wieder für Schlagzeilen, die er eigentlich vermeiden will. Doch in der traditionellen Schwingerschweiz ist Giger gerade dank dieser Bodenständigkeit und Bescheidenheit so beliebt. Im Gegensatz zur Aufmerksamkeit kommt er mit Kritik seit je gut klar. Wenn etwa beanstandet wird, dass er zu wenig technisch variantenreich schwingt, prallt das an ihm ab: «Mal heissts, ich sei nicht genügend vielseitig. Dann, mein Paradeschwung sei nicht mehr stark genug. Man kanns eh nie allen recht machen. Wichtig ist mir, was mein engstes Umfeld denkt.»
Dieses stärkt ihm den Rücken. Und alle packen mit an: Vater Emil, 59, der im Appenzell wohnt und eidgenössischer Kranzschwinger war, unterstützt Samuel oft vor Ort. Mutter Hanni, 53, kümmert sich etwa um die Schwingwäsche und kocht ab und zu vor strengen Wochenenden für ihren Sohn das Essen vor. Ihr Bruder Simon Schild, 47, auch ehemaliger Eidgenosse, ist Gigers Götti und Trainer im Schwingklub. «Und meine Grossmutter hilft mir bei der Fanpost!» Eine wichtige Stütze ist auch Freundin Michelle, 23. Sie wohnt im Haslital und kennt sich bestens aus in der Schwingszene. Ihr Nachname: von Weissenfluh. Ihr Bruder: Spitzenschwinger Kilian. Dass Bruder und Freund Konkurrenten sind, sei kein Problem, sagt Giger und verrät: «Michelle brachte vor Rührung und Freude am Samstag kaum ein Wort heraus.»
Höhenflug mit Bodenhaftung
Es ist bald Mittag. Ein Kollege fährt mit dem Lastwagen vorbei und macht in Gigers Richtung die Daumen-hoch-Geste. Giger winkt und schmunzelt, dann wischt er die Rampe des Tiefladers sauber. Schliesslich packt er seine Essensbox aus, lehnt sich an die Baumaschine und isst die selbst gekochte Pasta mit Rahmsauce. Eins wird klar: Die Bodenhaftung wird Giger auch nach seinem sportlichen Höhenflug nicht verlieren.