Königliche Residenzen und prunkvolle Schlösser spielen im Leben von Samuel Wittwer, 55, seit früher Kindheit eine Rolle. Als Bub schon ist der Emmentaler fasziniert von Märchen, Prinzen und Palästen. In seiner Jugend führt die erste Auslandsferienreise der Familie an die Loire, wo er mit seinen Eltern 16 französische Schlossanlagen in einer Woche besichtigt. «Mein Vater fand Wandern in den Alpen dagegen spannender», erinnert sich Wittwer.
Heute ist der Sohn eines Tierarztes und einer Hausfrau aus dem 500 Einwohner zählenden Dorf Kleindietwil BE in der deutschen Landeshauptstadt Potsdam Herr über 30 prunkvolle Schlösser und 300 000 Kunstwerke, darunter Stücke von Weltrang. Seine Visitenkarte macht etwas her: Unter dem Logo eines gekrönten Adlers steht «Dr. Samuel Wittwer, Direktor der Schlösser und Sammlungen – Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg». Am Telefon meldet er sich kurz und knapp mit – Wittwer.
Den Job hat ihm Star-Astrologin Elizabeth Teissier verheissen. Als sich Wittwer zu Jahresbeginn 1999 nach Deutschland fürs Bewerbungsgespräch aufmacht, ist ihm klar, dass er eigentlich keine Chance hat. «50 Prozent der Anforderungen erfüllte ich gar nicht», sagt er und fügt belustigt hinzu: «Ich hatte Ahnung von sächsischer Geschichte, von preussischer nicht die geringste.» Zudem unterschlägt er in der Bewerbung seine Fremdsprachenkenntnisse. «Als Schweizer dachte ich, diese nicht extra erwähnen zu müssen.» Er spricht perfekt Englisch und Französisch, parliert passabel auf Italienisch und schlägt sich auch im Niederländischen wacker. Ehe er an besagtem Morgen ins Flugzeug nach Berlin steigt, wirft er noch einen kurzen Blick ins eben erschienene Jahreshoroskop der Schweizer Illustrierten. «Madame Teissier sagte mir – von Sternzeichen Fische – Erfolg und Glück voraus.» So sei er «total entspannt und ohne jeden Druck» in die Vorstellungsrunde gegangen. «Ich plauderte drauflos, und wie ich später erfuhr, hinterliess genau das Eindruck bei den Verantwortlichen.»
Einst wollte Wittwer Schreiner werden. «Bis heute arbeite ich gern mit meinen Händen.» Auf den ersten Blick gibt man es ihm ja nicht, aber in der Berliner 200-Quadratmeter-Mietwohnung, die er gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Marcus Köhler, 56, bewohnt, handwerkt der Direktor höchstselbst: tapeziert Wände, kopiert und produziert edle Tapeten, restauriert antike Möbelstücke – und verziert nicht zuletzt die hässlichen Stromkabel sämtlicher Deckenlampen, ähnlich wie bei den Kronleuchtern der längst verblichenen Könige in «seinen» Schlössern.
Die preussischen Hoheiten setzten schon zu ihrer Zeit auf Schweizer Werte. In Sanssouci, dem berühmtesten unter allen Schlössern, präsentiert Wittwer gern imposante Kronleuchter, deren Kristalle vor fast 300 Jahren im Wallis geschürft und dann in Paris zu funkelnden Tropfen geschliffen wurden. Auch Schweizer Handwerker wie Johann Melchior Kambly arbeiteten im 18. Jahrhundert am Lustschloss des «Alten Fritz» mit. Der Bronzegiesser und Kunsttischler aus Zürich fertigte Prunkmöbel sowie das heute bei Schlossführungen zu bestaunende Notenpult von Friedrich dem Grossen.
Wittwer selbst, inzwischen auch in der preussischen Geschichte sattelfest, gehört zu den Koryphäen, was Porzellan und Keramik betrifft. Seit 15 Jahren tritt der studierte Kunsthistoriker und gelernte Porzellanmaler und -restaurator als Experte für das «weisse Gold» in der TV-Sendung «Kunst + Krempel» auf. «Ich kannte die Kultsendung im Bayerischen Fernsehen gar nicht, als ich für Probeaufnahmen eingeladen wurde», erzählt er lachend. Wittwer besitzt keinen Fernseher. Dass seine Expertisen von einer Million zuschauenden Flohmarktfans verfolgt werden, wird ihm nur bewusst, wenn er – wie jüngst in München auf der Strasse von einer älteren Dame – angesprochen und gefragt wird: «Junger Mann, haben Sie nur einen Anzug?» Die wöchentlich ausgestrahlten Beiträge werden vorab aufgezeichnet. «Da wechsle ich meine Kleider nicht.» Wittwer lud die TV-Macher auch schon zum Dreh nach Sanssouci ein. «Bisher kam es noch nicht dazu. Vielleicht spielt die Distanz eine Rolle, vielleicht auch der Weisswurstäquator, ähnlich wie bei uns in der Schweiz der Röstigraben.»
In die Schweiz ziehts den Wahl-Berliner jedes Jahr. Sechs Wochen Ferien verbringen Samuel und Marcus in der Ferienwohnung von Wittwers Eltern im bündnerischen Falera. Da beide beruflich viel und oft reisen, geniessen sie die Ruhe und Abgeschiedenheit der Surselva. «Wir kennen unterdessen auch alle Schlösser im Domleschg», sagt Wittwer mit einem Augenzwinkern. Im Gegensatz zu Samuels Vater, der Schlossbesichtigungen wenig abgewinnt, ist Marcus von alten Prunkbauten ebenso begeistert. Als Professor für Geschichte der Landschaftsarchitektur und Gartendenkmalpflege an der Technischen Universität Dresden promovierte er sogar bei Samuels Vorvorgänger als Direktor der preussischen Schlösser.
Kennengelernt hat Samuel Marcus, den er bernisch «Kusi» ruft, an einer wissenschaftlichen Tagung – im Schloss Charlottenburg. «Marcus war gut vernetzt in Berlin, ich erst in Potsdam angekommen. Er stellte mir Leute vor und erleichterte mir so meinen beruflichen Start. Dank ihm hatte ich über Nacht 300 neue Freunde.» Neben ihrer Passion für Paläste, Kunst und Kultur verbindet beide die Leidenschaft, in ihrem Zuhause Gäste zu bewirten. «Wir laden jedes Wochenende zum Dinner ein», sagt Marcus. Wird dann getafelt, hat Mimi, die dreijährige Katze, nichts auf dem Tisch zu suchen. Als Wittwer das Tier auf der Anrichte entdeckt, kann er sich trotz der Frechheit des Stubentigers ein Lachen nicht verkneifen.
Obwohl Sanssouci mit über einer halben Million Besuchern jährlich das Juwel unter den von Wittwer beaufsichtigten Palais ist oder wie er es salopp, aber durchaus treffend ausdrückt: «die Eier legende Wollmilchsau» – persönlich hat er kleine Schlösschen wie Charlottenhof, Pfaueninsel oder Rheinsberg lieber. Letzteres sei «magisch». Wenn er dort zu tun hat, ist das jedes Mal für ihn wie Ferien machen. Leider aber sei er «viel zu wenig» in den Prachtbauten. Das Bild vom Schlösser direktor hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem verändert und damit auch dessen Aufgaben. «Früher erreichten mich wöchentlich vier bis fünf Briefe, heute landen 70 bis 80 Mails am Tag im Posteingang.» Der Schweizer ist mit seinem Team für die wertvollen Kunstsammlungen, die Inneneinrichtungen, das Dokumentations- und Informationszentrum mit Bibliothek und Archiv zuständig, verantwortet den Wissenschaftsbetrieb sowie die Ausstellungen.
Der Porzellanleidenschaft frönt Wittwer nicht nur beruflich, auch privat lässt er die Finger nicht davon. Erst kürzlich formt er für eine altertümliche, auf einer Auktion erworbene Vase das fehlende Sockelteil nach, brennt es im Porzellanofen im Keller und gibt dem Fuss nun mit feinen Pinselstrichen und Farbe sein ursprüngliches Aussehen zurück. Die eigene Herkunft hat Wittwer auf einem Gemälde in seinem Büro immer vor Augen: eine Frau in Entlebucher Tracht. Wobei er streng genommen ja gar kein echter Emmentaler ist. Bis 2010 gehörte Kleindietwil zum Oberaargau. «Bei den Leuten blieb immer nur Aargau im Kopf hängen und die damit verbundenen Stereotype. Also sagte ich als Bub stets, dass ich aus dem Emmental bin. Wir wohnten ja zumindest an der Grenze», sagt er schelmisch grinsend.
Aus dem einstigen «Emmentaler Bauernbub» ist ein preussischer Schlossherr geworden. Was deren Anzahl betrifft, hält Wittwer locker mit den Löchern eines echten Emmentalers mit.