Die Schweizer Illustrierte trifft Sandrine Nikolic- Fuss einen Tag vor ihrem Arbeitsflug nach Miami am Flughafen Zürich. Die 53-jährige schweizerisch-französische Doppelbürgerin ist nicht nur Präsidentin von Kapers, der Gewerkschaft für das Swiss-Kabinenpersonal, sondern auch noch Maître de Cabine. «Ich putze die WCs, stosse die Trolleys, verteile die Essen, räume den Abfall weg – ich will im Flugdienst selber sehen und hören, was gut läuft und wo es hapert.»
Und hapern tut es laut Nikolic an allen Ecken und Enden: Die Swiss kämpft mit massivem Personalmangel. Während der Coronapandemie hat sie 1000 Flight-Attendants abgebaut – und viel zu spät mit dem Wiederaufbau begonnen. Hilfe holt die Airline, die einst als fliegende Bank bezeichnet wurde, bei der lettischen Air Baltic.
Kein Wunder, ist das Personal unzufrieden. 80 Prozent der Mitglieder der Piloten-Gewerkschaft Aeropers haben den neu vorgelegten GAV 2022 nicht unterzeichnet. Eine riesige Schlappe für die Airline. Vor allem aber die Crewmitglieder sind am Anschlag: «In meinem Maître-de-Cabine- Team kämpft eine aussergewöhnlich hohe Zahl gegen ein Burnout oder Erschöpfung», sagt Nikolic-Fuss.
Sandrine Nikolic-Fuss, Sie müssten keine WCs putzen und mit viel zu wenig Leuten Swiss- Passagiere bedienen: Sie haben einen Doktortitel in Philosophie, waren Bratschenspielerin in Sinfonieorchestern. Weshalb tun Sie sich das an?
Auf dem Markt könnte ich mich sicher besser verkaufen. Aber … … ich habe auch viele Freiheiten. Ich arbeite zwar viel, bin zu 25 Prozent in der Luft und zu 75 Prozent Präsidentin von Kapers. Das Fliegen gefällt mir immer noch sehr, vor allem die Zusammenarbeit an Bord – und die Arbeit für die Gewerkschaft ist intellektuell sehr befriedigend. Ich kann etwas für die Gesellschaft bewegen. Ausserdem bin ich seit 22 Jahren bei Swiss, habe noch einen alten Vertrag und verdiene besser als die Dienstjungen.
Morgen gehts nach Miami!
Darauf freue ich mich. Diese Flüge sind extrem wichtig für mich. Dann spüre und weiss ich, wie es sich anfühlt. Ich bin keine Beamtin, die nur im Büro sitzt und keine Ahnung hat von der Arbeit, die von den Mitgliedern geleistet wird. So kann ich mitreden und nachempfinden, wenn man nicht schlafen kann, sich mit einer Erkältung quält und vor lauter Müdigkeit plötzlich gar nicht mehr weiss, wie die Kollegin heisst, mit der man während des ganzen Flugs zusammen gearbeitet hat.
Jetzt untertreiben Sie.
Was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.
Momentan läuft in den Kinos der Streifen «Rien à foutre». Wenn Cassandre, Hostess einer Billig-Airline, die Uniform ablegt, fällt ihre Maske. Zwischen Flügen auf Lanzarote stationiert, betäubt sie ihre innere Leere mit Alkohol, Partys und Tinder-Sexdates.
Ich habe diesen Film natürlich gesehen. Er zeigt die ganz schwarzen Seiten des Jobs. Aber es ist eine gute soziale Analyse des Berufs mit Fokussierung auf Low-Cost-Airlines, die wilde Liberalisierung der Luftfahrt und die Personenfreizügigkeit.
Was ist Fakt?
Es gibt die Tag- und die Nachtmenschen. Ich bin nach Langstreckenflügen, die am hellen Tag ankommen, nie sofort ins Bett, sondern habe aktiv etwas unternommen, beispielsweise einen Kurs absolviert, etwas Kulturelles angeschaut oder Freunde besucht. Andere gingen sofort ins Bett und genossen dann das Nachtleben.
Jetzt ist die Party vorbei.
Die Swiss musste gar Flüge ausfallen lassen, weil sich die Crewmitglieder kurzfristig krankmeldeten. Das stimmt so nicht! Es geht um Fatigue und Sicherheit. Es ist die Aufgabe von jedem Besatzungsmitglied, vor jedem Flug einen Check seines physischen Zustands zu machen, sich zu fragen, ob er oder sie fit genug ist, um alle sicherheitsrelevanten Aufgaben erfüllen zu können. Wenn ein Teil der Crewmitglieder das verneint, so findet der Flug aus Sicherheitsgründen nicht statt. Auf der sehr anstrengenden São-Paulo-Rotation war das zweimal der Fall. Das wird nur im Ausland so gehandhabt, in der Schweiz werden die Leute ersetzt. Und das alles, weil das Personal fehlt. Weil die Bestände zu klein sind, arbeiten viele schon längere Zeit zu viel und kommen irgendwann ans Limit. Auch in der Krise waren die Leute agil und gutmütig. Sie wollten den Karren aus dem Dreck ziehen.
Aber früher oder später beschweren sich die Passagiere über den schlechten Service – so schneidet sich die Swiss doch ins eigene Fleisch? Das Kabinenpersonal ist mit viel Leidenschaft und Herz für die Fliegerei und die Swiss da. Das sind jetzt keine naiven Sprüche. Diese Menschen lieben einfach ihren Job. Und wenn zwei Kolleginnen ausfallen, lässt die Besatzung das den Passagier nicht spüren: Sie geben doppelt Gas, damit sich dieser zufrieden und wohlfühlt.
Aber Ihre Leute machen die Faust im Sack.
Zu Recht. Die vielen Pikettdienste stellen den ganzen Arbeitsplan auf den Kopf, weil die ursprünglich vorgesehenen Frei- und Arbeitstage ständig ändern. An ein Privatleben ist nicht mehr zu denken. Crewmitglieder sind praktisch Leibeigene der Swiss. Immerhin haben wir jetzt erreicht, dass unsere Crewmitglieder eine Entschädigung erhalten, wenn sie auf Flügen mit reduzierter Besatzung arbeiten müssen. Pro Rotation gibt es bei zwei Fehlenden 350 und bei einem 175 Franken. Bei den tiefen Löhnen ist das kein schlechter Zustupf.
Wer trägt die Schuld an der Misere?
Ganz klar das Management. Es hat die Leute entlassen und gleichzeitig die Flugpläne für dieses und nächstes Jahr aufgestellt.
«Es irritiert mich schon, wenn man jetzt Hilfe bei der Air Baltic holt mit sechs A220-300 samt Besatzung.»
Als Gewerkschaft hätten Sie doch intervenieren müssen?
Als es im Mai 2021 im Konsultationsverfahren um die Entlassungen ging, konnten wir mit Lösungen wie zum Beispiel Frühpensionierungen 70 Jobs retten. Schon damals haben wir schwarz auf weiss klargemacht, dass die 334 Entlassungen ein Fehler seien und die Airline diese Menschen im Frühjahr 2022 wieder brauche. Hinzu kommt, dass die Swiss für alle Arbeitsplätze Kurzarbeitsgeld erhalten, aber diese Leute trotzdem auf die Strasse gestellt hat. Es will mir nicht in den Kopf, dass eine Milizgewerkschaft diese Fakten schon sehr früh erkannt und ein Top-Management einer internationalen Airline alles verschlafen hat.
Sie meinen mit Absicht?
Es irritiert mich schon, wenn man jetzt Hilfe bei der Air Baltic holt mit sechs A220-300 samt Besatzung. Von unseren Kollegen in Lettland haben wir gehört, dass diese Crewmitglieder 900 bis 1500 Euro im Monat erhalten. Es ist eindeutig Sozialdumping. Das erschüttert mich!
Aber als kämpferische Gewerkschafterin wäre doch das Ihre ganz grosse Stunde, um jetzt kräftig auf den Putz zu hauen. Ihre Kollegen von der Pilotengewerkschaft Aeropers haben Nein zum neuen GAV gesagt.
Das finde ich sehr stark. Im Moment müssen sie gar nichts weiter unternehmen – denn sie befinden sich in einem vertragslosen Zustand und könnten sogar streiken. Wir haben noch einen gültigen Gesamtarbeitsvertrag. Ende dieses Jahres geht der Krisen-GAV zu Ende. 2023 arbeiten wir unter dem alten GAV. Kurz vor Ausbruch der Coronakrise hatten wir über einen neuen GAV verhandelt, der hätte allgemein vier bis fünf Prozent mehr gebracht. Der wäre zu dieser Zeit sehr gut gewesen. Als Amerika und China dichtmachten, wurden die Verhandlungen abgeschlossen. Wenn das EBIT der Swiss (Gewinn vor Zinsen und Steuern) mindestens plus acht Prozent beträgt, dann könnte dieser wieder kommen. Inzwischen ist er aber auch schon wieder veraltet. Im September kommt es zu ersten ausservertraglichen Diskussionen über den Inflationsausgleich. Unser GAV ist erst nächstes Jahr im April kündbar.
Bei den Löhnen gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Genf ist einer der wenigen Kantone mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Für 41 Stunden beträgt er 4111 Franken. Nun läuft vor dem Arbeitsinspektorat eine Auseinandersetzung. Es geht um die Zählung der Arbeitszeit und die Berechnung des Stundenlohns. Gemäss den Flugzeitbestimmungen der Europäischen Agentur für Flugsicherheit EASA und diversen Vertragsbedingungen kommen wir auf eine Anzahl von 42 Stunden pro Woche. Swiss rechnet (wie so oft) anders. Das wird spannend.