1. Home
  2. People
  3. Swiss Stars
  4. Sara Aduse: Sie wandert nach Äthiopien aus um gegen Genitalverstümmelung zu kämpfen
Von der Schweiz nach Äthiopien

Sara Aduses Kampf gegen Genitalverstümmelungen

Sie gibt dem Tabuthema der weiblichen Genitalverstümmelung in der Schweiz ein Gesicht: die gebürtige Äthiopierin Sara Aduse. Nach politischen Erfolgen in Zürich kehrt sie zurück in ihre Heimat, um vor Ort gegen die grausame Tradition zu kämpfen.

Artikel teilen

Im März wandert Sara Aduse aus. Ihr Hab und Gut hat sie verstaut, verschenkt oder verkauft. Sie nimmt nur drei Koffer mit.

Im März wandert Sara Aduse aus. Ihr Hab und Gut hat sie verstaut, verschenkt oder verkauft. Sie nimmt nur drei Koffer mit.

Fabienne Bühler

Vor einem Jahr zog Sara Aduse (33) in ihre Traumwohnung nach Rümikon AG. Hell, offen, mit Blick auf den Rhein. «Als ich das erste Mal hier stand, wusste ich: Das ist es, mein neues Zuhause!» Doch jetzt stapeln sich bereits wieder die Zügelkisten. Sara Aduse wandert aus. Nach Äthiopien, in das Land, in dem sie geboren wurde – und an den Ort, an dem sie eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens gemacht hat.

Als Kind lebte sie bei ihrer Grossmutter in Harar, einer Stadt voller enger Gassen im Osten Äthiopiens. Ihre Eltern arbeiteten in der Hauptstadt Addis Abeba, sie wuchs mit ihren zwei Brüdern, Cousinen und Cousins auf. Eines Nachmittags rief die Grossmutter die Siebenjährige alleine ins Haus. Heute sei ein grosser Tag, sagte sie. Sie versprach ein Fest, Geschenke. Doch es folgte kein Fest, sondern Schmerzen. Drei Frauen hielten das kleine Mädchen fest, seine Beine wurden gespreizt. «Ich spürte eine Spritze an meiner Klitoris.» Nicht zur Betäubung, sondern um das Gewebe anschwellen zu lassen. Mit einer Pinzette hielt die Beschneiderin ihre Klitoris fest und schnitt sie mit einem Skalpell ab. «Der Schmerz war so entsetzlich, dass ich ohnmächtig wurde.»

Die weibliche Genitalverstümmelung hat in vielen afrikanischen Ländern eine lange Tradition. Unzureichende Hygiene und ungeeignete Technik führen immer wieder dazu, dass Mädchen an Infektionen sterben oder verbluten. Auch Sara Aduse litt monatelang an den Folgen, hatte Angst und Schmerzen. «Ich verlor meine Unbeschwertheit, mein Kindsein. Mein Urvertrauen war gebrochen. Ich fühlte mich hilflos, ausgeliefert und fremdbestimmt.» Doch sie ertrug es still und leise.

Aufgeschrieben! Ihre Geschichte hat Aduse 2022 im Buch «Ich, die Kämpferin. Beschnitten, ver­geben, geheilt» veröffentlicht. 

Aufgeschrieben! Ihre Geschichte hat Aduse 2022 im Buch «Ich, die Kämpferin. Beschnitten, vergeben, geheilt» veröffentlicht. 

Fabienne Bühler

Kampf gegen das Schweigen

Mit zwölf Jahren zog ihre Mutter mit ihr und ihren inzwischen vier Geschwistern in die Schweiz. Ein neues Leben begann. Schule, Ausbildung zur Pflegefachfrau. Doch sie spürte eine Wut in sich. «Ich reagierte aggressiv, geriet in Streitereien. Und ich konnte meine Mutter nicht lieben.» Irgendwann wurde ihr klar: «Entweder verdränge ich das für immer, oder ich verliere den Verstand.»

Ausgleich! Einmal in der Woche meditiert Sara Aduse. «Es hilft mir, mich zu fokussieren.» 

Ausgleich! Einmal in der Woche meditiert Sara Aduse. «Es hilft mir, mich zu fokussieren.» 

Fabienne Bühler

Vor sechs Jahren begann Sara Aduse eine Therapie, stellte sich ihrer Vergangenheit. Sie reiste nach Äthiopien, um mit ihrer Grossmutter zu reden – sie zur Rede zu stellen! «Meine Grossmutter erkannte endlich, wie sehr sie mir wehgetan hatte.» Ihr zu verzeihen, war für Sara Aduse wichtiger als für die Grossmutter selbst. Nach langem Zögern arrangierte diese ein Treffen mit der Beschneiderin. Die alte Frau zeigte keine Einsicht. «Sie sagte, sie habe nur getan, was richtig sei.» Dabei ist die Beschneidung in Äthiopien seit 2007 verboten. Dennoch sind immer noch schätzungsweise zwei von drei Mädchen betroffen.

In den letzten zwei Jahren ist Aduse zweimal für längere Zeit nach Äthiopien gereist, hier im September 2023.

In den letzten zwei Jahren ist Aduse zweimal für längere Zeit nach Äthiopien gereist, hier im September 2023.

ZVG

Aus der Reise entstand der Dokumentarfilm «Do you remember me?» («Kannst du dich an mich erinnern?»), der in den Schweizer Kinos lief. Ein Befreiungsschlag. Sara Aduse hatte ihre Bestimmung gefunden. 2022 gründete sie eine Stiftung und wurde zur unermüdlichen Kämpferin gegen Genitalverstümmelung.

Die Sara Aduse Foundation sucht mit der Schule Awubdal in Harar nach besonders gefährdeten Mädchen – oft leben sie mit verwitweten Müttern oder in Familien, die unter extremer Armut leiden – und lässt die Eltern einen Vertrag unterschreiben: Sie verpflichten sich, ihre Töchter nicht zu beschneiden. Im Gegenzug finanziert die Stiftung die gesamte Schulbildung – rund 275 Franken pro Kind und Jahr. «Wir konnten bereits 138 Mädchen vor der Beschneidung bewahren.»

Fakten

8000 Mädchen erleiden weltweit immer noch jeden Tag eine Genitalverstümmelung.

200 Millionen Frauen und Mädchen sind beschnitten. 80 Prozent davon leben in Afrika.

98 Prozent der Frauen in Somalia werden beschnitten. Das ist die höchste Rate der Welt.

Gemeinsam mit der Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli erarbeitete Aduse ein Konzept für eine Anlaufstelle in der Schweiz. Denn hier leben rund 24'600 beschnittene Frauen. Und gerade lancierte sie eine Petition: Bund und Kantone sollen die bestehende Strafnorm durchsetzen, Aufklärungs- und Präventionsmassnahmen verstärken.

Vor einem Jahr begann Sara Aduse mit der Entwicklung des Projekts «Nina House». Ein Begegnungsort in Harar, in dem Frauen und Männer über die Folgen weiblicher Genitalverstümmelung aufgeklärt werden – von Medizinern und religiösen Autoritäten. Es soll noch dieses Jahr den Betrieb aufnehmen. «Ich will den Menschen das Wissen geben, das ihnen fehlt. Ich will ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken.» Aduse sieht sich als Brücke zwischen zwei Welten.

Der Osten von Äthiopien ist muslimisch geprägt, weshalb Sara Aduse dort auch mit einem Kopftuch unterwegs sein wird.

Der Osten von Äthiopien ist muslimisch geprägt, weshalb Sara Aduse dort auch mit einem Kopftuch unterwegs sein wird.

Fabienne Bühler

Wo Wunden heilen

In ihrer Traumwohnung in Rümikon merkte sie schnell, das ist eigentlich nicht der Ort, an dem sie sein soll. Sie muss selber nach Äthiopien gehen, muss das «Nina House» vor Ort leiten. «Ich hatte die Eingebung, dass ich alles hinter mir lasse und gehe.»

In Harar wird sie bei ihrer Grossmutter und ihrer Familie wohnen. «Obwohl wir oft aneinandergerieten, habe ich jetzt von allen Enkelkindern die engste Bindung zu ihr.» Wie lange sie bleiben wird, weiss Sara Aduse nicht. «Vielleicht drei Jahre, vielleicht fünf …» Aber eines weiss sie sicher: Ihr Kampf hat gerade erst begonnen.

Silvana Degonda
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 2. März 2025 - 12:00 Uhr