Der Glanz in den Augen von Eveline Hasler ist trotz ihrer 90 Jahre kein bisschen verblasst. Die Schriftstellerin steht freudestrahlend in ihrem Garten in Ronco TI oberhalb von Locarno und lächelt in die Kamera des Fotografen. «Mein Haus hier eröffnet mir das Schöne und Bedeutungsvolle dieser Welt.» Ein inspirierender Ort, der ihre Fantasie beflügelt. Nun erhält sie den Glarner Kulturpreis. 40 Jahre nach Erscheinen ihres historischen Romans «Anna Göldin. Letzte Hexe»! Auf die Frage, was es ihr bedeutet, erst jetzt geehrt zu werden, sagt sie bescheiden: «Ich freue mich einfach nur.» Sie erhielt in ihrer Karriere viele Auszeichnungen: Vom Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 1978 für ihr Gesamtwerk über den Schubart-Literaturpreis, einen der ältesten des Landes Baden-Württemberg, bis zur 2012 verliehenen Ehrendoktorwürde der Uni Bern.
Am Samstag reist Eveline Hasler vom Tessin ins Glarnerland. Sohn Paul fährt sie nach Ennenda, wo seiner Mutter im 2017 eröffneten Anna Göldi Museum der mit 20'000 Franken dotierte Preis überreicht wird. Eine späte Ehre. Die Glarner Kulturkommission schreibt in ihrer Begründung: «Vielleicht teilt Eveline Hasler das Schicksal ihrer Romanfiguren, Frauen, deren Umfeld nicht bereit oder auch nicht in der Lage war, ihre Fähigkeiten zu erkennen, Frauen, denen man die Anerkennung versagt hat, die ihre Heimat verlassen und ihrer Bestimmung gefolgt sind und dabei gegen allerlei Widerstände kämpfen mussten.»
Missbilligung und Ablehnung erfährt Hasler schon in früher Kindheit. Sie ist neun, als sich die Eltern scheiden lassen. Eveline bleibt beim Vater, ihre kleine Schwester zügelt mit der Mutter nach St. Gallen. Darüber wird in Glarus getuschelt. Obwohl ihr Vater Besitzer des örtlichen Warenhauses Schubiger ist, wird seine Tochter scheel angeschaut. «Als ich Brot kaufen ging, fragte mich die Bäckerin vor anderen Kunden, ob ich überhaupt anständige Strümpfe anhätte, und lupfte mir dabei den Rock», erinnert sich Eveline Hasler. «Ich schämte mich damals fürchterlich.»
Ein besonderes Flair für Randständige
Nicht zuletzt auch wegen ihrer eigenen Erfahrungen und Erlebnisse haben es Eveline Hasler seit je Menschen angetan, die unterdrückt und verdrängt, schikaniert, verschwiegen oder als Randständige oder Aussenseiter abgestempelt werden. Sie fühlt sich als Schriftstellerin gedrängt, deren Geschichten zu erzählen: jene von Anna Göldi, die als «letzte Hexe» hingerichtet wird. Jene von Emilie Kempin-Spyri, erste promovierte Juristin in Europa, die, von Schicksalsschlägen getroffen, in der Psychiatrie endet. Oder jene von Mentona Moser, einer Schweizerin aus reichem Hause, die als Kommunistin in ihrer Heimat deshalb geächtet wird und ihren Lebensabend bis zum Tod in einem DDR-Altersheim verbringt.
Auch Männergeschichten bringt Hasler zu Papier: die über den Genfer Geschäftsmann Henry Dunant, Gründer des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Oder die vom Bauernsohn Thut Melchior aus Tierfehd bei Linthal GL, der mit 2,34 Metern Körpergrösse als Riese und Kuriosität auf Jahrmärkten und an Höfen Europas zur Schau gestellt wird. Und nicht zuletzt die Erlebnisse des Bündner Lehrers Thomas Davatz, der 1855 mit einer Gruppe Auswanderer vor dem Hunger in seiner Heimat nach Brasilien flieht.
Dass es grundsätzlich mehr Frauen als Männer sind, über die sie schrieb, liegt für Eveline Hasler daran, dass «Frauen stets weniger gegolten haben». Kritiker schimpften sie deshalb Feministin. Auch wenn sie sich selbst als solche sieht – «in erster Linie bin ich eine sozialkritische Frau, die merkt, wenn Menschen zu kurz kommen oder ihnen Unrecht geschieht».
Die Schriftstellerin lässt sich nie abbringen von ihrem Vorhaben, zu schreiben, was andere verschweigen wollen, auch wenn sie hin und wieder bei ihren Recherchen in Archiven behindert wird. Als sie zu Anna Göldi in historischen Quellen stöbert, gesteht ihr der Archivar nur sieben Kopien von Unterlagen zu. «Alles sonst Wichtige musste ich mir handschriftlich notieren.»
Stolz statt Argwohn
Der Argwohn gegenüber der Schriftstellerin ist in Glarus verflogen. «Wie überall neigte man lange Zeit dazu, Dinge unter den Teppich zu kehren, die nicht genehm sind.» Heute zollt der Glarner Regierungsrat Eveline Hasler «höchste Anerkennung». Fritz Rigendinger, 54, Kulturbeauftragter des Kantons, lobt: «Sie hat ein feines Sensorium für gesellschaftliche Strukturen, für Macht und die Ordnung der Geschlechter. Und sie versteht es brillant, diese durch die Geschichte ihrer Figuren offenzulegen.» Als Historikerin und Autorin habe sie Widerstand erlebt, weil sie mit einem historischen Roman weltberühmt wurde, der den Obrigkeiten nicht zur Ehre gereichte. «Der Kanton Glarus ist stolz auf seine berühmte Autorin.»
Seit Kurzem sitzt Eveline Hasler wieder an einem Buch. Allzu viel mag sie noch nicht verraten. «Es geht um Mozart, wobei ich eine weniger bekannte Seite von ihm beleuchte.» In der Residenza al Lido in Locarno, wo sie bis zum Tod ihres Ehemanns Paul im Juni 2022 mit ihm vorübergehend lebte, steht eine Kiste mit Büchern und CDs über das einstige Musikgenie. Ein befreundeter Journalist aus Zürich hat sie ihr ausgeliehen. Als ihr Mann starb, brachte sie vor Trauer nicht eine einzige Zeile zustande. «63 Jahre waren wir verheiratet», sagt sie wehmütig.
Eveline Hasler malt am Tisch ihres Häuschens in Ronco, an dem die meisten ihrer Bücher entstanden, ein Aquarell. «Damit hat sie wieder angefangen», freut sich ihre Freundin Angela Battistini (77). Auch die Schreibblockade ist überwunden. «Vier Monate nach Pauls Tod spürte ich, dass er immer noch in meiner Nähe ist und sich freuen würde, wenn ich wieder schreibe.»