Hotel Mama war schon angenehm», meint Remo Forrer seufzend, als er eine Tiefkühlpizza in den Ofen schiebt. Vor einem knappen Jahr ist er bei seinen Eltern ausgezogen in die erste eigene Bleibe auf dem Land, unweit seines Elternhauses. «Es läuft besser, als ich dachte», sagt Remo. Auch wenn er ab und an dem Drang widerstehen müsse, die Schmutzwäsche ins Auto zu packen und zu Mama zu fahren. Dafür isst er zwei- bis dreimal pro Woche dort. Dann gibts zum Beispiel sein Lieblingsessen: Härdöpfelgratin mit Chäswürstli. «Als Ausgleich zur Tiefkühlpizza», sagt Remo lachend. Ansonsten fühlt er sich aber in der Zwei-Mann-WG, die er mit seinem Kumpel Severin Schönenberger (23), teilt, pudelwohl. «Ich mache gern mein eigenes Ding.» Das gilt auch für die Musik. So seien, im Nachhinein gesehen, die vergangenen drei Jahre genau richtig gewesen für ihn, meint Remo. Auch wenn er anfangs hadert und um vermeintlich verpasste Chancen trauert.
Der gerade mal 18-jährige Remo Forrer gilt 2020 früh als Favorit der beliebten TV-Castingshow «The Voice of Switzerland». Die Show wird trotz Pandemie durchgezogen, den Sieg ersingt sich Remo nicht im TV-Studio, sondern im heimischen Wohnzimmer in Hemberg SG. Alles, was danach üblicherweise im Schnelltempo geschehen würde – Interviews, Auftritte, die erste eigene Platte – fällt flach. Auch der Deal mit einem grossen Label geht flöten – ohne Platte und Auftritte ergibt ein Plattenvertrag wenig Sinn. «Das war erstmals brutal frustrierend», sagt Remo. Er schliesst seine Lehre im Detailhandel ab – «ich bin einer von denen, die coronabedingt ohne Lehrabschlussprüfung davonkamen» –, arbeitet noch eine Weile weiter im Lehrbetrieb. Musikalisch macht er, was eh sein Ding ist – nämlich das, was ihm passt. Er schreibt Songs, nimmt sie auf, auch mal gemeinsam mit seinem WG-Partner Severin, der neben seinem Job als Automatiker noch DJ ist.
Als die Pandemie abflacht, wird Remo immer häufiger für Auftritte gebucht, seit einiger Zeit steht er gemeinsam mit einer Band auf der Bühne. Er gibt den Job im Detailhandel auf und macht eine Weiterbildung im Immobilienbereich, da sich dieser Beruf besser mit seinen musikalischen Ambitionen vereinbaren lässt. Die Teilnahme am Eurovision Song Contest gehört für den Ostschweizer lange in die Sparte «unerreichbare Ziele». Nicht dass er schon als Kind von diesem Auftritt vor gut 180 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern in ganz Europa geträumt hätte. Remo stammt aus einer Ländlermusik-Familie, sein Vater und sein älterer Bruder sind beide regional bekannte Musiker und Komponisten in dieser Sparte. Der Grand Prix der Volksmusik war im Hause Forrer jeweils wichtiger als der Concours Eurovision de la Chanson, wie der ESC lange hiess.
Erst die Teilnahme von Luca Hänni, ebenfalls Sieger einer Castingshow, bringt Remo auf den ESC-Geschmack. Schliesslich ermuntert ihn ein Produzent, mit dem er zusammenarbeitet, ein, zwei Songs einzureichen. Der Beitrag, mit dem er schliesslich ins Rennen steigt, stammt zwar nicht aus seiner Feder (sondern unter anderem aus jener des schottischen Singer-Songwriters Argyle), «aber er passt zu mir und meiner Stimme, und ich kann zu 100 Prozent dahinterstehen». Aus 280 Einsendungen wird «Watergun» von einer Jury als Beitrag für den ESC 2023 in Liverpool ausgewählt.
Die Freude, seine Heimat als «Voice of Switzerland» an so einem prestigeträchtigen Anlass vertreten zu dürfen, ist riesig. Und dies erst noch in der Stadt der legendären Beatles – welche für das eigentliche letztjährige Siegerland, die Ukraine, in die Bresche springt. «Ich war noch nie in Liverpool. Nur schon da hinzureisen, ist total cool.» Ansonsten sieht Remo Forrer dem ESC entspannt entgegen. «Ich bin einfach nicht so der nervöse Typ.» Die Prognosen der Buchmacher sehen ihn im Mittelfeld der insgesamt 37 Teilnehmenden. Als Siegerin wird momentan am ehesten die Schwedin Loreen gehandelt, 2012 schon ESC-Gewinnerin.
Ob es hilft, dass sein Song im Vorfeld für Diskussionen sorgt, wird sich zeigen. «Watergun» ist ein Anti-Kriegs-Lied. Der Gedanke daran, dass Tausende junge Männer in seinem Alter im Moment mit echten Waffen und eben nicht nur mit Wasserpistolen aufeinander losgehen, mache ihn traurig und nachdenklich, sagt Remo, der selbst demnächst Zivildienst leisten wird. Den Vorwurf einer politischen Message – was am ESC verboten ist – lässt er nicht gelten: «Ein Appell für Frieden hat doch nichts mit Politik zu tun.»
Zum Halbfinal, den Remo zuerst einmal bestreiten muss, reist ein zwölfköpfiger «Fanklub» aus Familie und Freunden nach Liverpool. Dank einem neuen Reglement liegt das Erreichen des Finals erstmals ganz in der Hand der Zuschauerinnen und Zuschauer, während bisher zusätzlich eine Fachjury mitzureden hatte. Ob das gut oder schlecht ist? «Keine Ahnung», sagt Remo. Versagensängste hat er keine: «Ich habe nichts zu verlieren. Selbst wenn ich null Punkte bekomme, hatte ich die einmalige Gelegenheit, mich vor einem Millionenpublikum zu zeigen.» So erhofft er sich von der ESC-Teilnahme das, was ihm beim Sieg von «The Voice» verwehrt blieb: Erfahrungen sammeln, Kontakte knüpfen «und vielleicht ein, zwei Türen, die sich öffnen». Und die sind heute wohl ein bisschen grösser als damals nach dem «TVoS»-Sieg – gestern Hotel Mama, heute ganz Europa!