«Lechaim!», sagt Fishel Rabinowicz und hebt sein Schnapsglas. Der hebräische Trinkspruch bedeutet: Auf das Leben! Tatsächlich, er hat ganz schön viel Leben zu feiern. Rabinowicz wird am 9. September 100 Jahre alt. «Als junger Mann habe ich zehn Jahre verloren.» Zwei Jahre Krieg, vier Jahre Konzentrationslager, vier Jahre Krankenhaus. «Vielleicht habe ich die zehn Jahre jetzt zurückbekommen.»
Rabinowicz wurde 1924 im polnischen Sosnowiec geboren. Als die Deutschen Polen angriffen, war er 14 Jahre alt. Die Familie wurde deportiert. Rabinowicz musste beim Bau der Autobahn krampfen – da, wo die Sterblichkeitsrate der Häftlinge besonders hoch war. «Die Nazis fanden meine roten Haare lustig. Sie nannten mich Rotkopf und gaben mir leichtere Arbeiten», erinnert er sich. «Das war vielleicht mein Glück.» Neun Arbeits- und Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebte der junge Mann. Aber er verlor 31 Familienmitglieder.
Bei der Befreiung 1945 im KZ Buchenwald wog er noch 28 Kilo und kam ins Sanatorium nach Davos. Er machte in Zug eine Ausbildung zum Schaufensterdekorateur und studierte einige Semester an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Später zog er an den Lago Maggiore und führte ein erfülltes Leben mit Frau und Sohn.
Bilder mit Geschichte
Die Gedanken an den Holocaust liessen ihn lange nicht los. Im Kopf begann er über viele Jahre, Bilder zusammenzustellen. Daraus entstehen ungefähr 50 Werke, die er nach seiner Pensionierung anfertigt. Sie alle haben eine Bedeutung – zeigen Teile seiner Biografie sowie jüdische Geschichte, Kultur und Traditionen. «Die Bilder waren meine Therapie.» Inzwischen sind die Gedanken an das Grauen fast verschwunden. «Ich denke nicht viel daran, aber ich trage es immer mit mir rum.»
Fishel Rabinowicz raucht jeden Tag fünf Zigaretten in seiner Küche. «Aber nie ganz fertig.» In diesen Tagen macht ihm seine Verdauung zu schaffen, und gehen kann er nur mit dem Stock. Vor neun Jahren ist seine Ehefrau Henny gestorben. Zwei Bekannte helfen im Haushalt, sein Sohn José lebt mit ihm. «Ich bin gesättigt vom Leben.»
Die Stadt Locarno veranstaltet im Rathaus einen Empfang zu seinem Geburtstag. «Der Bürgermeister hat mich gefragt, ob ich Blumen, Schokolade oder Wein möchte», sagt Fishel Rabinowicz und lacht. «Ich habe mich natürlich für den Wein entschieden.»