Als Gertschs Frühwerk «Luciano II» 2017 für 3,4 Millionen Franken versteigert wurde, waren alle überrascht. Nur der Berner Maler nicht. Das Geld? Es interessiert den «teuersten Gegenwartskünstler der Schweiz» nicht, «Die Zeit», so der Maler aus Rüschegg BE, «ist kostbarer als Geld. Ihr ist alles zwischen Geburt und Tod unterworfen. Je älter man wird, desto wertvoller sollte man sie nutzen.» Franz Gertsch hat dies zeitlebens getan. Wer den Künstler im Bauernhaus im Schwarzenburgerland besuchte, wurde in eine andere Welt katapultiert. Im ab geschieden gelegenen Heim umarmte einen eine helle, offene, gastfreundliche Atmosphäre. Das Atelier war Klause und Lebensader. Hier arbeitete er bis zu seinem Tod. Meist elegant im Anzug. Auch das Atelier wirkte stets sauber und aufgeräumt. An der Wand: riesige Holzschnitte. Er erfand dafür eine neue Technik. «Das gilt im Allgemeinen für meine Arbeit. Ich suchte immer wieder die Herausforderung und das Abenteuer.»
Der Bilderpoet ist am 21. Dezember 2022 im Spital Riggisberg BE friedlich eingeschlafen.
Kurt ReichenbachStrich für Strich, so arbeitete er. Am Ende des Tages hatte er eine fertige Fläche, die so gross war wie eine Hand. Und am Ende des Jahres wurde daraus ein Bild. «Jeder Punkt entspricht einer Sekunde meines Lebens.» Die riesigen Motive strotzen vor malerischer Brillanz und Virtuosität. Jede Handbewegung war ein Akt von Energie. Der meditative Prozess wirkt auf die Betrachter wie ein Sog. «Das Streben nach Verlangsamung ist für mich eine Gegenbewegung zur sinnlosen Hast.»
Auf dem Bild «Medici» (1971/72) malte Gertsch Künstlerfreunde wie Luciano Castelli aus Luzern (M.) hyperrealistisch auf Grossleinwand. Sein neuer Stil schockierte damals die Kunstwelt.
HODie Farben rührte er im Heuschopf an. Das azzurum ultramarinum, jenes Blau jenseits des Meeres, ist so kostbar wie Gold. «Ein Kilo kostet 16'000 Franken», erklärte Gertsch. Hielt kurz inne. Und griff wieder zum Pinsel. Sein Œuvre umfasst 70 Gemälde und 18 Holzschnitte. Picasso, der ebenfalls mit 92 Jahren starb, hinterliess rund 50 000 Arbeiten. Franz Gertsch fand seine Sujets (Pestwurz, Schilf, Wald, das Schwarzwasser) beim Spazierengehen vor der Haustür. Darum geht es in seinem Werk: um die visuelle und geistige Erfahrung der Natur als ein Ausdruck des Lebendigen. Die Gegend, die er seit 1976 liebte, war für ihn ein innerer Kraftort. Und Kraft konnte der Vater von vier Kindern gebrauchen.
Spirituelle Entdeckungsreise abseits des Mainstreams. Das Gemälde «Herbst» ist 4,9 Meter breit. Dem Jahreszeitenzyklus ist im Museum Franz Gertsch in Burgdorf BE ein eigener Raum gewidmet.
HO1930 in Mörigen am Bielersee geboren, kam seine Karriere erst mit 40 Jahren in Schwung. Die Akzeptanz liess auf sich warten. Ab den 70er-Jahren wurden seine Porträts rund um Künstler Luciano Castelli, die Momentaufnahme von Rock-Ikone Patti Smith, die überirdischen Frauengesichter unbekannter Schönheiten zum Hingucker. Die «Frankfurter Allgemeine» titelte: «Dieser Gertsch macht, was er will.» Lange war das Familienleben von finanziellen Unsicherheiten geprägt. Seine zierliche Frau Maria, die Löwin im Hintergrund, hielt ihrem Mann den Rücken frei. Täglich war sie mit ihm im Atelier, ging ihm zur Hand, brachte Tee und viele kleine Dinge. Auch seine depressive Veranlagung war kein Tabu. «Sobald ich den Pinsel in die Hand nehme, überkommt mich eine klare, innere Ruhe.»
Maria und Franz Gertsch vor ihrem 200-jährigen Wohnhaus. Im scheinbar Banalen der Natur fand der Künstler das Besondere.
Kurt ReichenbachDiese innere Aufgeräumtheit liess den Maler in Gedanken reisen. Zum 90. Geburtstag fertigte er Varianten seiner früheren Gräser an – in überraschenden Knallfarben! «Ich hatte Angst, die Farbigkeit würde die Betrachter schockieren.» Das Gegenteil war der Fall. Seine Bilder sind Meditationen für die Seele und im Museum in Burgdorf zu bewundern, das seinen Namen trägt. Unternehmer und Kunstsammler Willy Michel (75) hat es gestiftet. Er besitzt die grösste Sammlung an Gertsch-Bildern. «Er wird mir als ein Mensch in Erinnerung bleiben, der für seine Kunst gelebt hat und trotz seines Erfolgs bescheiden geblieben ist.» Wer den «Vier-Jahreszeiten-Raum» betritt, wird von starken Gefühlen ergriffen. Der Zyklus ist ein Höhepunkt in Gertschs Spätwerk. Er malte die vier Bilder von 2007 bis 2011. Wie es ihm gelang, seinen monumentalen Motiven jene verspielte Beiläufigkeit zu geben, bleibt sein Geheimnis. Zuletzt fiel ihm das Malen schwer.
Punkt um Punkt zum Ziel. Der Künstler bearbeitet einem Holzschnitt. Seine riesigen Frauenporträts machten ihn weltberühmt.
Kurt ReichenbachAm Abend des 21. Dezembers 2022 schlief er im Kreis der Familie friedlich ein. Was bleibt, ist ein visueller Moment des Innehaltens, des Stillwerdens, der Einkehr. Franz Gertsch hat für uns die Natur eingeatmet, um sie als Bild auszuatmen. Seine Kunst beseelt den Raum – für alle Zeiten.
Gertsch verknüpfte meisterhaft Poesie mit Realität. Das Bild «Huaa …! » (1969) war sein erstes realistisches Grossgemälde.
Kurt Reichenbach