Zeichen der Krise. New York ist noch nicht ganz die alte, von vielen Besuchern aus aller Welt geschätzte Stadt. Nach vielen Monaten Corona-Pandemie ist Manhattan zwar immer noch etwas zu laut, etwas zu schmutzig, und es riecht auch vielerorts noch immer nicht besonders gut. Aber insbesondere Hotellerie und Gastronomie sind sichtbar angeschlagen, viele Lokale sind leer oder verschlossen, manche Hotels – auch an bester Lage – haben noch nicht wieder aufgemacht.
Umso erstaunlicher ist, was gerade an der 11 Madison Avenue passiert. Seit dem 10. Juni 2021 serviert Daniel Humm im «Eleven Madison Park» (EMP) ein rein pflanzenbasiertes Menü. Erstmals überhaupt in der Geschichte der gehobenen Gastronomie wird in einem Dreisternerestaurant ausschliesslich vegan gekocht. Und die New Yorker überfluten das Reservationssystem auf der Suche nach einem Platz im «besten Restaurant der Welt» (2017). Allein für Juli gingen 15 000 Anfragen für Tische ein, jeder Abend ist ausgebucht, und auffällig viele bekannte Persönlichkeiten seien seine Gäste, erzählt Daniel Humm.
Der Weg eines Pioniers. Was Daniel Humm im EMP angestossen hat, könnte die Haute Cuisine nachhaltig prägen. Keine Missverständnisse: Nur weil Humm jetzt vegan kocht, heisst das nicht, dass in zwei Wochen oder zwei Jahren Top-Restaurants kein Fleisch und keinen Fisch mehr servieren werden. Aber Humm etabliert sich mit einem Menü, wie es noch nie in der Geschichte zubereitet wurde, gewissermassen im Sternenhimmel der Haute Cuisine. Sämtliche ande-ren Aktivitäten hat er beendet – abgesehen vom «Davies and Brook» in London – und konzentriert sich ganz auf den neu eingeschlagenen Weg. «Ein Restaurant wie dieses gibt es kein zweites Mal, deshalb konzentriere ich mich jetzt ganz darauf», sagt Humm.
Der Aufwand für den neuen Weg ist enorm: Rund 60 Köche braucht es allein für den Abendservice, ein paar mehr noch für die Vorbereitungsarbeiten am Morgen. Zurzeit ist das EMP nur abends an fünf Tagen die Woche geöffnet. «Ich möchte, dass dasselbe Team permanent zusammenarbeitet, damit es zusammenwächst und eine hohe Konstanz erreicht», erklärt Humm.
Unangestrengte Coolness. Faszinierend ist vom ersten Schluck eines Tomatentees mit Zitronenverveine, dass der Aufwand immer zu schmecken, aber kaum zu sehen ist. Mit einer mühelosen Selbstverständlichkeit kommt jeder Gang, jedes kleine Schälchen daher. Und wenn man sich vom Gedanken befreit, zehn Gänge ohne Fleisch, Fisch und andere tierische Produkte zu essen, dann ist dies einfach ein wirklich grossartiges Menü (zu 335 Dollar). Nach dem Tee wird das Tomatenthema als eine Art Feier der Sommersaison mit einem Salat aus geschälten Cherrytomaten, Erdbeeren und Shiso, einem knusprigen, in der Pfanne gebackenem Dosa-Brot mit gelbem Tomatenpulver sowie grünem Tomatenrelish und einer Pinienkernencreme fortgesetzt.
«Ich möchte, dass dasselbe Team permanent zusammenarbeitet, damit es zusammenwächst und eine hohe Konstanz hat»
Daniel Humm
Es folgt ein cremiger Koji-Reispudding mit einer lauwarmen Celtuce-Brühe und knackigen Celtuce-Streifen (chinesischer Salat) als kleines sättigendes Intermezzo, bevor mit der Kombination aus Tonburi, Erbsen und Lattich einer dieser Gänge aufgetragen wird, die das EMP immer schon ausgezeichnet haben: verspielt, frisch, überraschend und wohlschmeckend. Das Gericht ist im Austausch mit buddhistischen Mönchen aus Japan entstanden und basiert auf den Samen der Kochia scoparia. Der «Kaviar des Feldes» wird in Japan von Hand ausgelöst und frisch nach New York geliefert. Im «Eleven Madison Park» kocht man ihn in einer Algen-Plankton-Brühe, was ihm einen leicht jodigen, an Kaviar erinnernden Geschmack verleiht. Dazu gibt es knackige, geschälte und kurz blanchierte Erbsen und eine Crème fraîche auf Basis fermentierter Mandeln sowie Erbsencreme.
Komplexe Bilder. Fertigprodukte werden im EMP keine verwendet, in Zusammenarbeit mit einer Fermentationsdatenbank in Brooklyn wird nach neuen Wegen gesucht. Für die Butter etwa werden Sonnenblumenkerne ausgepresst, fermentiert und dann mit weiteren Kernen, Sonnenblumen- und Kokosöl zu einer verblüffenden cremigen und aromatischen pflanzlichen Butter vereint. Dies ist nicht bloss eine vegane Küche, sondern ein Ereignis. Jedes Gericht setzt sich zusammen aus einer Vielzahl feiner Schichten verschiedener Lagen von Aromen, die in ihrer Gesamtheit ein unerwartetes, hochkomplexes Geschmacksbild ergeben.
Als Luxusgüter in der Gastronomie wurden bis anhin meist Produkte tierischen Ursprungs angesehen. Auf dieser Grundlage baut gewissermassen die ganze gehobene Küche auf. Eine Ausnahme in neuerer Zeit, welche aber letztlich nur diese Regel bestätigt, war Ferran Adrià, der im «El Bulli» Ende der 90er-Jahre begann, mit enormem technischem und personellem Aufwand Produkte in ihre innere Struktur zu zerlegen, was gemeinhin mit «Molekularküche» bezeichnet wird.
Eine Rande ist kein Kobe-Entrecôte. Adrià hat aber vor allem die gehobene Küche neu gedacht. Und das wird wohl auch die Rolle von Daniel Humm sein. Der Schweizer könnte der einflussreichste Koch des kommenden Jahrzehnts werden, ein Bocuse der Moderne. Die Hauptzutaten seiner Küche sind Pflanzen, aber eine Demeter-Rande mag noch so natürlich gewachsen sein und noch so toll schmecken. Selbst wenn sie während des Wachstums mit Mozart-Symphonien beschallt wurde, ist sie nicht vergleichbar mit einem Entrecôte vom Kobe-Rind aus Kagoshima.
Die wichtigste Zutat der Zukunft ist deshalb Kreativität, Zeit und Arbeitskraft. Gemüse zu veredeln, sodass es zum geschmacklichen und gesellschaftlichen Erlebnis wird, braucht sehr viel mehr Gedankenarbeit, als ein gutes Stück Fleisch auf den Punkt zu braten und interessant zu kombinieren. Butter und Rahm nicht einfach mit irgendwelchen hochverarbeiteten Soja-Industrieprodukten zu ersetzen und neue Wege zu finden, um Brühen anders als mit Eiweiss zu klären, ist anspruchsvoll, weil man sich kaum auf jahrzehntealtes, überliefertes Wissen verlassen kann. In einer pflanzenbasierten Küche ist das Produkt alleine noch nicht viel wert, erst die intensive Beschäftigung damit – verbunden mit dem enormen Aufwand, es aufregend zuzubereiten – macht daraus ein erinnerungswürdiges Gericht.
Der Gastronomie stehen aufregende Zeiten bevor. Das «Eleven Madison Park» in New York ist heute das wichtigste Restaurant der Welt
In den Kühlschränken der Küche, wo früher die Enten trockengereift wurden, stehen jetzt Tongefässe hinter den verglasten Türen. Sie verbergen im Innern Randen, die über drei Tage erst geräuchert, dehydriert, anschliessend rehydriert und dann, in Klee und Kräuter gewickelt, im Tongefäss gebacken werden. Das Ergebnis ist ein – man muss es so sagen – durchaus an Fleisch erinnernder, reichhaltiger, aussergewöhnlicher Geschmack. Serviert wird die Rande, nachdem sie am Tisch mit einem Hammer aus dem Gefäss befreit und in Lattich, Kimchi und dünn geschnittener Nashi-Birne eingewickelt wurde. Dazu gibt es einen Randen-Rotweinjus, der dunkel, süss, erdig und leicht säuerlich schmeckt.
Eine gebeizte, gebackene Aubergine mit Tomaten und Koriander, Fingeraubergine und eingelegten Radieschen schliesst den salzigen Teil des Menüs ab. Als Beilage gibt es Mais mit Wacholder und verschiedene grüne und gelbe Bohnen. Und die Aubergine ist fast schon ein spektakuläres Gericht mit viel Umami, leichter Säure und einer erstaunlichen geschmacklichen Breite.
Herausforderung an die Gourmetwelt: Eine geräucherte Erdbeere mit Thymian und ein cremiges Dessert aus Heidelbeerkompott, Yuzucreme und einer Eisschicht mit Holunderblüten beenden das erste vegane Menü im «Eleven Madison Park». Daniel Humm fordert – so könnte man es zusammenfassen – die Gourmetwelt heraus und stellt ein tradiertes Bild von gutem, luxuriösem Essen infrage. Die Formel für die Beurteilung von Restaurants, wonach die Qualität des Produkts, die Technik der Zubereitung und das Herausarbeiten einer eigenen Handschrift beurteilt werden, gilt nicht mehr.
Der neue Luxus ist die Kreativität, die Kraft der Ideen und ein neues Verständnis von Geschmacksbildern. Insofern stehen der gehobenen Gastronomie aufregende Zeiten bevor. Und ein Schweizer Koch, der einst mit nichts als zwei Koffern und einigen Messern in die USA ausgewandert ist, könnte sie für immer verändern. Daniel Humms «Eleven Madison Park» ist heute das wichtigste Restaurant der Welt.