Flühli-Sörenberg. Die flächengrösste Gemeinde des Kantons Luzern ist im Sommer ein beschaulicher Fleck Erde. Der Triumph von Joel Wicki (25) am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest hat den 2000-Seelen-Ort aus dem Sommerschlaf gerissen. Gemeindepräsidentin Hella Schnider ist diese Woche an allen Fronten gefordert: «Seit Sonntag herrscht Ausnahmezustand.» Die Bäuerin muss für den Empfang am Mittwoch den Gemeinderat eiligst zum OK umfunktionieren.
Über 5000 Besucher strömen in den Ort – darunter Ueli Maurer, der höchste Schwinger-Fan des Landes und «Lieblings-Bundesrat» des neuen Königs. Über allen aber thront der neue Regent der Schwingergemeinde – Joel I. «Das ist einzigartig. Mir scheint, als ob jede und jeder im Entlebuch ein Plakat für mich gemacht hat.» Mit ihm feiern: Mutter Esther, Vater Herbert, Bruder Kevin und Freundin Alicia. Joel Wicki ist der erste Innerschweizer auf dem Thron seit 36 Jahren (und erst der zweite insgesamt). Heinrich «Harry» Knüsel, der Sieger von 1986, hat endlich einen Nachfolger bekommen.
Der Weg zum Ziel war lang und beschwerlich. Als er ein Kind war, deutete wenig darauf hin, dass Joel je ein ganz Böser wird. Mit sieben Jahren litt er an einer heimtückischen Virusinfektion, die Lähmungserscheinungen provozierte und einiges infrage stellte. Klein Joel lag wochenlang im Spital und musste starke Schmerzmittel schlucken. Schliesslich kam er wieder auf die Beine – ohne allerdings zu einem Hünen heranzuwachsen. Im Gegenteil: Der Schwingsport, den er durch seinen Vater und seinen Bruder kennen- und lieben lernte, schien ihm eine Nummer zu gross: «Da muss zuerst noch etwas Dünger in die Schuhe», pflegte der Schulleiter in Sörenberg, Guido Bucher, zu sagen.
Heute ist Bucher Mediensprecher des Innerschweizer Schwingerverbands und mächtig stolz auf seinen ehemals leichtgewichtigen Schüler: «Seine Leistung in Pratteln war grandios.» Fast noch mehr freut sich der Pädagoge darüber, dass Wicki «noch genauso tickt wie früher. Er liebt Tiere und die Natur. Und er ist grundehrlich – und braucht die Öffentlichkeit nicht.» Schon in seiner Kindheit sei dies so gewesen: «Joel liebte das Schwingen immer. Im Scheinwerferlicht aber wollte er nicht stehen.»
Das gilt auch für die Momente seiner persönlichen Schicksalsschläge. 2013 wurde sein Vorbild und Schwinger-Kamerad Benno Studer bei einem Amoklauf in einer Schreinerei in Menznau LU erschossen. Darauf angesprochen, wird Wicki nachdenklich: «Jedes Mal, wenn ich durch Menznau fahre, beginnt mich Bennos Schicksal von Neuem zu beschäftigen.» 2016 erkrankte sein Vater an Darmkrebs – und kämpfte sich dank Frühbefund und Chemotherapie ins Leben zurück.
Es sind Ereignisse, die Joel Wicki demütig werden lassen – und ihm vor Augen führen, dass der Sport nicht alles ist – dass die Niederlage im Schlussgang des Eidgenössischen 2019 ebenso nur ein kurzer Dämpfer war wie der knapp verpasste Sieg am Unspunnenfest 2017. «Es ist schön, der König der Herzen zu sein», sagte er damals. So war es ernst gemeint, als er am Sonntag nach dem Gewinn des Königstitels angekündigte: «Am Montag gehe ich ganz normal auf den Bauernhof und arbeite mit den Kühen.
Am Mittwoch müssen schliesslich die fremden Gusti zu ihren Besitzern zurück. Und es bedeutet mir sehr viel, sie würdig zu verabschieden.» Da hatte er allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht – beziehungsweise ohne die Medien. Anstatt zu heuen und zu misten, musste Joel Wicki im Halbstundentakt Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews geben. «Das gehört halt dazu», sagt er mit royaler Gelassenheit im Hotel Rischli in Sörenberg.
Die Ruhe, die der neue König verströmt, wirkt in diesen oft überhitzten Zeiten wohltuend – und kann dem Schwingen neue Sympathien einbringen. Zwar vertraut auch Wicki den Diensten eines Managers, gleichzeitig sagt er aber: «Das Wichtigste ist mir mein persönliches Umfeld – meine Eltern, mein Bruder und meine Freundin. Und mein Kindheitstraum ist es, einen eigenen Bauernhof zu führen.»
Dafür möchte er gern allfällige Mehreinamen investieren: «Es macht mich glücklich, ein schönes Zuhause zu haben. Das gibt einem ein Gefühl der Sicherheit.» Auch sei es in einem Sport wie Schwingen vernünftig, gewisse Reserven anzulegen: «Man weiss nie, was medizinisch noch auf einen zukommt.»
Es sind leise Worte, bei Wicki klingen sie absolut glaubhaft, und bei den Traditionalisten kommen sie gut an. Zwar hat der Mann in den vergangenen Jahren ein erstaunliches Medienbewusstsein und eine bemerkenswerte Abgeklärtheit entwickelt, dennoch wirkt er noch wie jener kleine Schüler, von dem Primarlehrer Bucher liebevoll sagt: «Er war kein Engeli, aber konnte immer zwischen Richtig und Falsch unterscheiden.»
Im Sägemehl machte er am vergangenen Wochenende alles richtig – und bestätigte damit den Eindruck der gesamten Saison. Im Jahr 2022 verlor Wicki nur drei Gänge. In Pratteln war er der konstanteste und technisch beste Schwinger. Dass der entscheidende Schwung im Schlussgang von Fachleuten als nicht regulär eingestuft wurde, nervt ihn: «In unserem Sport entscheiden oft Sekundenbruchteile und Zentimeter. Zwei Meinungen sind in vielen Fällen zulässig.»
So oder so: Der gelernte Baumaschinenmechaniker, der derzeit in der Ausbildung zum Landwirt ist, verkörpert mit seiner bodenständigen und naturverbundenen Art die Tradition des Schwingens wie kaum ein Zweiter. Und auch das Entlebuch hat in ihm den perfekten Botschafter gefunden. Hella Schnider, seit zwei Jahren Gemeindepräsidentin von Flühli-Sörenberg, sagt nicht ohne Stolz: Wenn man sich einen typischen Entlebucher vorstellen will, wäre er genau wie Joel Wicki. Er ist bodenständig, respektvoll und bescheiden. Und er liebt die Landwirtschaft.»
Thedy Waser, seit neun Jahren Technischer Leiter des Innerschweizer Schwingerverbands, betont derweil die sportliche Bedeutung von Wickis Sieg für die ganze Region: «Der Erfolg von Joel wird unserem Sport in der Innerschweiz enormen Schub geben. Nun haben die Jungen endlich wieder ein Vorbild, das ihnen zeigt, was alles möglich ist.» Waser vergleicht Wicki mit dem Nidwaldner Marco Odermatt, dem derzeit komplettesten Schweizer Skifahrer: «Marcos Erfolge haben bei uns einen regelrechten Ski-Boom ausgelöst. Bei Joel wird dies im Schwingen ähnlich sein.»
«Sackstark Joel» – «Joel, wir gratulieren dir zu deinem tollen Erfolg», steht auf Plakaten entlang der Strassen im Entlebuch. Sogar vor dem lokalen Volg, wo Königsmutter Esther Wicki jeweils an der Kasse sitzt, steht eins. Joel ist allgegenwärtig – und macht ein ganzes Tal glücklich.