Vier Kinder halten ihre Handys hoch und filmen jedes Auto, das über die Davoser Promenade fährt. «Das isch er, dötta isch de Selenski dina!», ruft einer aufgeregt. Doch nein, es ist nur eine ganz normale Limousine.
Dienstag am WEF. Stargast ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45). Da er am Abend nach seiner Rede im Kongresszentrum noch im Ukraine House erwartet wird, stehen nicht nur vier Jungs aus Davos mit ihren Handys am Strassenrand, sondern auch Hunderte WEF-Teilnehmer und Passanten. «Luag, jetzt kunnt no meh Polizei, krass», sagt einer der Jungs. Sie sind alle zehn Jahre alt und auf dem Weg nach Hause plötzlich in diese abgesperrte Zone geraten. Wegen Selenskis Sicherheitsmassnahmen bleibt einem nicht anderes übrig, als auf seine Ankunft zu warten. Nicht einmal, wenn man der Präsident von Moldawien ist und zum nächsten Meeting müsste. Die Polizisten, welche die Promenade sichern, sind schwer bewaffnet, wirken nervös und drängen die Menschenmenge durch Kommandos («Alli hina bis zur Kantonalbank!») und dann mit Absperrbändern zurück. Die Davoser Jungs stört es nicht. «Voll spannend» – «Wart, wia haisst de, wo sött koh, nomol gnau?»
«Ein unglaublicher Mensch»
Selenski. Sein Besuch in Bern und Davos begeistert die Schweizer Politiker. Bundesrat Ignazio Cassis (62) erzählt in Davos am Rande einer Veranstaltung, wie sehr ihn der ukrainische Präsident beeindruckt hat. «Er ist ein Beispiel für uns alle», sagt Cassis. «Ein unglaublicher Mensch, auf dem der Druck seiner Familie, seines Landes und der ganzen Welt lastet – und der im Zug nach Davos trotzdem auch mal lachen konnte.» Neu-Bundesrat Beat Jans (59) war bei dieser speziellen Fahrt von Bern nach Davos auch dabei. «Ich hatte den Eindruck, dass sich Selenski im Zug wohlfühlte», sagt Jans. «Für ihn war es eine kleine Verschnaufpause.»
Für Jans hingegen gehts wenige Wochen nach seiner Wahl schon richtig los. Vor über 20 Jahren war er schon mal am WEF, damals noch als Kritiker, der sich als Geschäftsmann verkleidete. Hat sich sein Blick auf das WEF seither so verändert? «Das WEF hat sich verändert!», so Jans. «Früher wusste niemand so recht, was hier oben passiert. Es war nicht öffentlich.»
Doch trotz der Öffnung – seltsam ist das WEF auch heute noch. Zum Beispiel, wenn bei einer Veranstaltung das Geplauder im Eingangsbereich so laut ist, dass man gar nicht hört, worüber auf dem Podium gerade gesprochen wird. Oder wenn sich Meta alias Facebook bei den Besuchern Tag für Tag mit heisser Schoggi beliebt machen will. Oder wenn ein riesiger Schneehaufen vom Dach eines Hauses auf die Promenade fällt und nur durch Zufall keinen WEF-Teilnehmer trifft. Oder wenn man beim Anstehen vor dem WC eine Visitenkarte in die Hand gedrückt bekommt und realisiert, dass einem die gleiche Karte vor einem Jahr von der gleichen Person schon mal gegeben wurde. Oder wenn man hört, dass Ex-US-Vizepräsident Al Gore (75) in der Standseilbahn zum Berghotel Schatzalp von seiner Hüftoperation erzählt.
Kein Wunder, dass sich selbst geladene Gäste aus Politik und Diplomatie in Davos auch kritisch äussern: «High Society» und «Zirkus» heisst es dann. Doch bei der Effizienz sei das WEF halt schlichtweg nicht zu schlagen: Alle sind hier, also kann man alle treffen.
Dieses Jahr sind vor allem viele Besuchende da, die keinen Zugang zum Kongresszentrum haben, sondern sich nur an den Nebenveranstaltungen tummeln. Überall ist ein grosses Gedränge und Gewarte – und meist wird dabei amerikanisches Englisch gesprochen.
Wer genau hinschaut, entdeckt auch britische Gäste. Zum Beispiel die beiden Schwestern Prinzessin Beatrice (35) und Prinzessin Eugenie (33). Die Enkelinnen der Queen kommen – im Gegensatz zu ihrem Cousin Prinz William früher – ohne Personenschutz aus. Eugenie ist da, weil sie mit ihrer Stiftung gegen moderne Sklaverei kämpft. Und Beatrice setzt sich für die Gleichstellung der Frauen ein. Beide sind zugänglich, freundlich und müssen schnell weiter – das nächste Meeting wartet.
Amherd in der ersten Reihe
Derweil hält Selenski im Kongresshaus einen flammenden Appell an die politische und wirtschaftliche Elite: «Putin hat mindestens 13 Jahre des Friedens gestohlen und ihn durch Schmerz und Krisen ersetzt, die die ganze Welt betreffen.» Putin werde sich nicht ändern. «Wir müssen ihn zum Verlieren bringen.» 2024 soll zu einem «entscheidenden» Jahr werden, um den Krieg zu beenden. Selenski bestätigt, dass die Arbeit an der Organisation eines Weltfriedensgipfels in der Schweiz – auf den er sich mit Bundespräsidentin Viola Amherd verständigt hatte – begonnen hat. Amherd, die neben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der ersten Reihe sitzt, nickt. «Obwohl er schon so lange im Krieg ist, hat Selenski eine solche Energie», sagt Amherd. «Er hat mich sehr beeindruckt.»
Und die vier Jungs, die auf ihn warten? Sie können Selenski beim Aussteigen nicht sehen, dafür den schwarzen Mercedes, in dem er sitzt, und jede Menge Polizisten. Trotzdem sind sie froh, als die Blockade endlich aufgehoben wird.«Miar müend eba hai go Znacht essa», sagen sie – für heute haben sie genug vom WEF.