Die junge Frau im kleinen Fiat bremst vorsichtig ab, kurbelt das Fenster hinunter, schiebt ihre Gesichtsmaske unters Kinn. Mit einem freundlichen «Buongiorno» reicht sie der Zöllnerin ihren orangen Grenzgänger-Ausweis. Die wahrt bei der Kontrolle der Papiere einen Corona-gerechten Abstand zum Fahrzeug. Ihr Kollege im Hintergrund ist bereit, bei Problemen rasch zu Hilfe zu eilen. Ein kurzer Dialog auf Italienisch, dann wird die Pendlerin Richtung Berninapass durchgewunken.
Pistole und Schlagstock am Gürtel. Man wüsste gut damit umzugehen, doch in aller Regel bleiben sie bestenfalls aufregende Requisiten für den Laien, der die Arbeit am schweizerisch-italienischen Grenzübergang von Campocologno GR im südlichsten Puschlav verfolgt. Auch jener Lenker bleibt gelassen und anständig, der kurz darauf angewiesen wird, umzukehren und ins italienische Veltlin zurückzufahren, weil seine Papiere einen Grenzübertritt nicht erlauben. «Die Leute hier haben fast ausnahmslos Verständnis», stellt die Uniformierte den Grenzgängern ein gutes Zeugnis aus. «Viele wirken müde, einzelne erzählen von ihren traurigen Schicksalen in Corona-Zeiten.» Die Menschen kommen aus einer schwer gebeutelten Region in die Schweiz. Vielleicht erklärt das die ruhige Szenerie. An der Nordgrenze soll das Grenzpersonal oft Anfeindungen durch Passierwillige ausgesetzt sein.
So bleibt das Aufsehenerregendste an diesem gewöhnlichen Werktag am Zoll die Beamtin selbst. Selina Gasparin heisst sie, ist 36 Jahre alt und die beste Biathletin der Schweiz. Olympia-Silbergewinnerin 2014 in Sotschi (Rus), Weltcup-Rennsiegerin, Pionierin der Sportart in der Schweiz. «Es kommt vor, dass mich Leute bei der Kontrolle erkennen und auf den Sport ansprechen», erzählt sie. Klar sind das die angenehmen Momente.
Zu 100 Prozent ist die studierte Sport- und Bewegungswissenschafterin bei der Eidgenössischen Zollverwaltung angestellt. Wie fünf Kolleginnen und Kollegen aus dem Biathlon und vier aus dem Langlauf bewältigt sie ihr Arbeitspensum teils in Uniform und teils im Sportdress. Ihre Schwestern Elisa, 28, und Aita, 26, dienen dem Land derzeit am Flughafen Zürich.
Dass Selina im Val Poschiavo an der Grenze steht, ist kein Zufall. Das Zollpersonal hat bezüglich des Einsatzortes ein gewisses «Wunschrecht», und so fiel die Wahl der gebürtigen Engadinerin auf das Tal, in das inzwischen ihre von hier stammenden Eltern zurückgekehrt sind. Hier fühlt sie sich heimisch, versteht auch den örtlichen Dialekt.
Einen Monat ist sie bereits in Campocologno stationiert. Dabei wären nach der anstrengenden Saison jetzt Ferien angesagt gewesen. Doch unmittelbar nachdem sie im finnischen Kontiolahti mit Platz zwei in der Verfolgung zum vierten Mal diesen Winter aufs Weltcup-Podest gelaufen war, wurde die Saison abgebrochen. Und kaum war sie tags darauf zurück in der Heimat, waren die Grenzen dicht. So kam alles anders als geplant. «Als wir Grenzwacht-Angestellten unter den Biathleten erfuhren, dass wegen Corona zusätzlicher Personalbedarf an den Übergängen besteht, war für uns klar, dass wir uns sofort zum Dienst melden.» Ihren Teil zur Lösung der derzeit angespannten Situation für die Eidgenössische Zollverwaltung beizutragen, so wie es die zusätzlich aufgebotenen rund 50 Militärpolizisten und eine beträchtliche Anzahl Milizbeamte als Beobachter tun, ist für Selina Gasparin eine Selbstverständlichkeit.
Zu Hause in Lantsch GR hiess es also gleich wieder Abschied nehmen von Ehemann Ilja Chernousov, 34, einem russischen Spitzen-Langläufer, und den beiden Töchtern Leila, 5, und Kiana, 1. «Sie waren schon traurig, dass Mami gleich wieder wegmuss. Aber zum Glück ist Ilja zu Hause, und unsere Nanny wohnt gleich nebenan.»
Jetzt hat Selina Gasparin temporär ein Zimmer im Puschlav und sieht ihre Liebsten zu Hause nur alle paar Tage, statt mit ihnen am Strand Sandburgen zu bauen. Der reguläre Trainingsbetrieb ruht. Ungewiss, wann die Sportlerin ihre Arbeit wieder im Rahmen eines Verbands-Trainingscamps leisten kann statt am Zoll. Sofern es die Verfassung nach ermüdenden Acht-Stunden-Schichten zulässt, hält sie ihren Körper mit persönlichem Fitnesstraining in Form, um gerüstet zu sein, wenn es wieder losgeht. Dass sie als Biathletin weitermacht, ist klar. Umso mehr, als sie gegen Saisonende gerade zu Hochform aufgelaufen war. Die nächtlichen Patrouillengänge mit Nachtsichtgerät an der grünen Grenze hoch über dem Puschlav – «es passiert wenig, das sind meist lange Stunden» – reichen nicht aus, um den Organismus einer Spitzensportlerin auf Betriebstemperatur zu halten.
Es dunkelt ein im Puschlav. Mit dem Schraubenschlüssel fixiert Grenzwächterin Selina Gasparin das Gitter, das den Übergang von Campocologno zwischen 20 und 5 Uhr unpassierbar macht. Mit Kollege Alessandro Zala, 34, gehts im Auto mit der Aufschrift «Guardgia da Cunfin» – Grenzwache – zum nächsten Patrouillengang in die Wälder. Angst? Selina hat keine, auch nicht vor dem Virus, das ja jeder Grenzpassierende noch in sich tragen kann. «Wir halten die Vorsichtsmassnahmen gewissenhaft ein. Das tun wir als Spitzensportler sowieso das ganze Jahr über.»
Gern wäre Selina Gasparin jetzt mit dem Gewehr auf dem Rücken auf Langlaufski unterwegs. Die Zeiten verlangen anderes.