Während des Wettkampfs blendet Simona Aebersold, 25, jegliche Geräusche aus. Zuschauerrufe, Vogelgezwitscher, Blätterrascheln – nichts hört sie. Aber dieses Mal war es anders. Kurz vor dem Ziel ruft ihr ein Bekannter auf Norwegisch zu: «Du kämpfst um Gold!» Aebersold nimmt die Worte wahr. Und rennt zum Erfolg. Vor dem Wohnblock im kleinen Dorf Brügg BE weist nichts darauf hin, dass hier die frischgebackene OL-Weltmeisterin wohnt. Ganz anders in Simonas Zimmer: Überall hängen Fotos von Turnieren und Routen, Trainingsklamotten sind auf dem Boden verstreut. «Ich war in diesem Jahr erst etwa zwei Wochen daheim.» Meistens lebt Aebersold nämlich nicht bei ihrer Familie, sondern aus dem Koffer, pendelt zwischen Trainingslagern und Weltcup.
Dieses Mal musste sie nicht weit fahren: Die Weltmeisterschaft des Orientierungslaufs fand in Flims statt. Für Aebersold aber war es ein langer Weg, bis sie die ersehnte Goldmedaille in den Händen hielt. Viermal landete sie bisher bei einer WM entweder auf dem zweiten oder dritten Platz. Den Heimvorteil nutzte die Bernerin: «Er hat meinen Sieg sicher beeinflusst. Im eigenen Land anzutreten, ist einfach etwas Spezielles. Ich habe mich noch nie so intensiv auf eine WM vorbereitet.» Chancen auf Gold rechnete sie sich eher in der Mitteldistanz aus, lief dann aber in der Langdistanz zum Sieg.
Noch ein Wunsch erfüllte sich für sie: Ihr Freund, der norwegische OL-Profi Kasper Fosser (24) holte ebenfalls Gold. «Es war unser Traum, gemeinsam zuoberst zu stehen.» Im Final steckte sie dann emotional in einem Dilemma: Freund Fosser und Schweizer Teamkollege Matthias Kyburz kämpften erbittert um den Sieg. Für wen hoffte Aebersold in dieser Situation? «Es ist schwierig für mich», sagt die 25-Jährige lachend, «aber bis jetzt war ich immer auf Kaspers Seite, und das wird auch so bleiben.» Mit ihrem Team ist Aebersold trotzdem eng verbunden. «Das liebe ich am OL: Wir sind eine grosse Familie.» Ihr Team und das von Fosser haben sie schliesslich auch verkuppelt. «Ich hatte keinen Freund, und alle fanden, er sei ‹en Herzige› und dass es zwischen uns passen könnte.» 2020 sprang der Funke in einem Trainingslager in Tschechien.
Profis auch als Paar
Die meiste Zeit verbringen sie zusammen. Kasper sagt: «Wir haben die gleichen Ziele. Für uns ist der OL die Priorität, wir müssen keine Kompromisse eingehen.» Aebersold spricht Norwegisch, ihr Liebster versteht Schweizerdeutsch – und spricht das Wort «Schoggi» gekonnt aus, denn das liebe er an der Schweiz. Miteinander reden die beiden aber Englisch. «Dann sind wir auf dem gleichen Level», sagt Aebersold, und Fosser nickt zustimmend.
Aufgewachsen in OL-Familie
Aebersold will OL-Profi werden, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihr Vater gewann mit der Staffel dreimal die WM. Bruder Fabian (22) läuft ebenfalls. Dieser steht etwas im Schatten seiner Schwester: «Mir tut es weh, wenn er läuft und als mein kleiner Brüetsch dargestellt wird. Fabian ist selber ein super Läufer.» Aber sie sei zuversichtlich, dass er sich in den nächsten Jahren beweise. Das Startkapital steuerten ihre Eltern bei, heute kann sie von Sponsoren leben. Leider aber nicht von ihren Erfolgen – denn im OL gibts bei einer WM oft ein niedriges oder gar kein Preisgeld. «Ich hoffe, das ändert sich bald.» Dieses Mal konnte Aebersold 2000 Franken aus Flims mit nach Hause nehmen.
«Simona ist ein Ausnahmetalent, das so nicht häufig vorkommt»
SIMONE NIGGLI-LUDER
Seit dem Winter hat die Weltmeisterin mit Andrea Binggeli eine Sportpsychologin an ihrer Seite. Diese habe einen wichtigen Anteil an ihrer Goldmedaille. Binggeli war schon die Mentaltrainerin der Schweizer OL-Legende Simone Niggli-Luder, die 23 Weltmeistertitel gewann. Die 45-Jährige sagt denn auch: «Ich finde es wichtig, dass man sich Hilfe holt, wenn man sie braucht. Ich brauchte sie damals auch.» Nach Niggli-Luder ist Aebersold die Erste, die seit zehn Jahren für die Schweiz wieder WM-Gold in der Langdistanz gewinnt. «Simona ist ein Ausnahmetalent, das so nicht häufig vorkommt. Wenn sie gesund bleibt, kann sie noch lange ganz vorne mitlaufen», prophezeit Niggli-Luder. Genau das ist das Ziel: Aebersold will die Nummer 1 der Welt werden. «Ich möchte den OL dominieren.»