In den vergangenen Monaten hat dieser kleine, fensterlose Proberaum im dritten Untergeschoss deutlich an Bedeutung gewonnen. «Es ist unser Zufluchtsort, unser Therapiezimmer, geworden. Hier können wir sein, wie wir wollen», sagt Gini Jungi, 30, Sängerin und Gitarristin der Band Annie Taylor, die aktuell für den Swiss Music Award als «SRF 3 Best Talent» nominiert ist.
Einmal pro Woche kommt die vierköpfige Band trotz abgesagten Konzerten zusammen, um im Zürcher Binz-Quartier ihre Songs zu proben, Pläne und Ideen zu schmieden. «Und be- vor wir mit der Musik anfangen, reden wir jeweils eine Stunde darüber, wie es uns geht.»
Denn 2020 hätte das Jahr von Annie Taylor werden sollen. Das Debütalbum «Sweet Mortality» war auf den Frühling geplant, genauso eine USA-Tournee: über zehn Konzerte, vom kalifornischen Los Angeles bis nach Austin, Texas. «Am 12. März erhielten wir die Visa-Stempel in unsere Pässe», sagt Bassist Michael Mutter, 37. Doch dann folgt der Lockdown. «Das war ein richtiger ‹Downer›. Und der ganze Aufwand für nichts.» Dabei wollten sie sich mutig in neue Gefilde stürzen – so wie ihre Namensgeberin Annie Taylor. Die 63-jährige verwitwete Lehrerin stürzte sich 1901 als Stuntfrau in einem Fass die Niagarafälle hinunter – und überlebte als erster Mensch überhaupt! Sie liess das Fass patentieren, «doch es wurde ihr später geklaut, und sie starb mausarm in einem Kloster», erzählt Michael. Kurz: eine Person mit einer spannenden Geschichte – perfekt als Bandname!
«Im Kindergarten wie in der Band ist eine klare Kommunikation wichtig»
Gini Jungi, Sängerin Annie Taylor
Frontfrau Gini Jungi ist nicht Stuntfrau, aber Kindergärtnerin. «Sie zeigt uns auch stets mit dem Finger, was sie gerade meint oder möchte», verraten die Bandkollegen lachend. «Im Kindergarten wie in der Band ist eine klare Kommunikation wichtig. Man will niemandem wehtun – auch wenn man langsam hungrig wird», sagt Jungi. «Und an beiden Orten ist es laut, und man verlässt sich aufeinander.»
Annie Taylor wurde vor vier Jahren gegründet. Die Band ist ein Mix aus Surf-Rock, Rock ’n’ Roll und Grunge – und ein Gemeinschaftswerk. Zwar schreibt Gini die Texte mit Melodien, «aber die Songs sind erst das Skelett. Muskeln, Haut, Kleidung und Haar bringen die anderen rein – jeder seinen Part.» – «Aber du bist schon die Chefin, weil jemand führen muss und niemand von uns das besser kann», sagt Tobias Arn, 32. Jede Woche fährt der Maler und Gipser aus Solothurn zwei Stunden zum Übungsraum der Band. Seinen verschlissenen Cowboystiefeln ist es zu verdanken, dass Bandkollege Michael im verschneiten Laax GR auf ihn aufmerksam wurde. «Er wirkte wie ein wahrer Rock ’n’ Roller auf mich, also sprach ich ihn an.» Michael (liebt Motörhead und Abba) jobbte zudem gemeinsam mit Gini hinter einer Bar in Laax. Und der heutige Harley-Davidson-Verkäufer ist auch das Bindeglied zu Schlagzeuger Jan Winkler, 29: die beiden fuhren im gleichen gesponserten Snowboard-Team Slopestyle. «Mittlerweile haben wir alle das Snowboard gegen unsere Instrumente eingetauscht», sagt Jan, Student der Naturwissenschaften.
«Wir sind schon ein bisschen miteinander verheiratet, haben uns auch abseits der Musik gern und verbringen Zeit miteinander», sagt Gini. Dennoch haben sie langsam genug davon, ständig Pizza im Bandkeller zu essen, sind hungrig auf «unsere Desserts, die Livekonzerte»! Schliesslich haben sie ihr Debütalbum im September veröffentlicht und wollen ihre zwölf Songs vor Leuten präsentieren. Wenn alles gut läuft, spielen sie ihre nächsten Konzerte im Spätsommer – vielleicht auch in Deutschland – und gehen im November auf Tournee. Annie Taylor sind bereit für Abenteuer ausserhalb des Kellers!