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Fussball EM 2021 – Die Kolumne von Sarah Akanji

«Sie wuchsen über sich hinaus»

Der Penalty-Krimi war für Sarah Akanji kaum auszuhalten. Auch weil ihr Bruder zum Schuss antrat. Sie weiss: Diese Sekunden entscheiden, ob ein Spieler in den Augen der Öffentlichkeit zur Legende oder zum Versager wird.

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Sarah Akanji, Schweizer Fussballerin, SP Politikerin, schreibt SI Kolumne während Fussball EM, 8. Juni 2021,Winterthur

In der Höhle des Löwen – fast wie beim Penaltyschiessen. Sarah Akanji in den Katakomben des FC Winterthur.

Fabienne Bühler

Diese Leidensminuten ab der 120. Minute. Sie fühlen sich an wie Stunden. Stunden, die gefüllt sind mit allen möglichen Emotionen und mich innerlich fast zerreissen. In den ersten 90 Minuten erleben wir ein aufwühlendes Auf und Ab, haben emotional schon alles durch. Doch es ist nicht vorbei: Es folgt das Bibbern in der Nachspielzeit und eine Grenzerfahrung beim Penaltyschiessen. Die Nerven liegen bereits vor dem Elfmeterschiessen komplett blank, und wir wissen: Nun kann alles passieren. Der Moment ist da, der alles entscheidet. Die Spieler können innerhalb weniger Minuten zu gefeierten Helden werden – oder zu grossen Verlierern. Und die ganze Schweiz schaut zu. Diesen gewaltigen Druck kann Mensch fast nicht in Worte fassen.

«Wieso tust du mir das an?»

Die Luft scheint von Bukarest bis in die Schweiz plötzlich weniger Sauerstoff zu beinhalten, alles scheint sich in Zeitlupe zu bewegen, aber auch im Schnelltempo zu entwickeln. Die Spannung ist schier unaushaltbar. Ich leide. Mehr noch, als ich realisiere, dass die Nummer 5 zum Penaltypunkt schreitet. «Wieso tust du mir das an», schiesst es mir durch den Kopf, als Manuel seinen Weg zum Strafraum fortsetzt. «Ich platze gleich, wie soll ich das überstehen?», als er Anlauf nimmt und der Schiedsrichter die Pfeife zum Mund führt. Es fühlt sich an, als würde sich mein kleiner Bruder ganz alleine in eine Schlacht werfen, dessen Ende völlig unklar ist und bei der ich ihn nicht unterstützen kann. Hin- oder wegschauen? Keine Option scheint mir erträglich. Also starre ich gebannt und konzentriert atmend, mit angespannten Muskeln, zusammengekniffenen Lippen und den Händen vor dem Gesicht auf den Bildschirm und lasse die Sekunden verstreichen. Bis der Ball im
Netz zappelt, mein Herz wieder zu schlagen beginnt und die angestaute Energie aus mir rausplatzt. 

BUCHAREST, ROMANIA - JUNE 28: Manuel Akanji of Switzerland (R) celebrates with his teammates after attempting a free kick for score his goal during the UEFA Euro 2020 Championship Round of 16 match between France and Switzerland at National Arena on June 28, 2021 in Bucharest, Romania. (Photo by Marcio Machado/Getty Images)

Nach dem versenkten Penalty klatscht er erleichtert mit den Kollegen ab: Manuel Akanji.

Getty Images

Wie wir in den letzten Wochen medial erfahren haben, ist des Fussballers Ruf immer auf Messers Schneide. An einem Tag gefeiert, am nächsten Tag verflucht. Fussballprofis stehen im Rampenlicht, werden auf Schritt und Tritt überwacht, und auf ihnen liegt ein konstanter Leistungsdruck – auf und neben dem Feld. Ihr privates Leben wird beleuchtet, kommentiert und zur Schau gestellt, ihre Leistungen auf dem Platz werden konstant bewertet, kritisiert und interpretiert. Fussballer wirken in unserer Gesellschaft unnahbar, unantastbar, fast unmenschlich und eher wie Halbgötter, die in einer anderen Welt leben. Dies führt dazu, dass die Erwartungen an sie von vielen riesig sind und sie einerseits völlig vergöttert, aber andererseits auch sehr schnell verteufelt werden. Fussballer müssen gemäss Gesellschaft selbstüberzeugt, aber nicht überheblich sein. Ehrgeizig, aber gleichzeitig bescheiden. Konstanz zeigen, aber dennoch überraschen. Eigentlich ein Task der Unmöglichkeit, als Mensch all diese gegensätzlichen Erwartungen zu erfüllen.

Sarah und Manuel Akanji 2017 (c) Thomas Buchwalder

Die 28-Jährige ist Mitbegründerin und Kapitänin des ersten Frauenteams des FC Winterthur. Ihr Bruder ist Natispieler Manuel. Sarah studierte Politik und Ge- schichte und macht einen Master in Changing Socie- ties. Sie politisiert für die SP im Zürcher Kantonsrat und sitzt dort in der Kommission für Bildung und Kultur.

Thomas Buchwalder

Als wäre diese Glorifizierung und Erwartungshaltung der Öffentlichkeit nicht Druck genug im Alltagsleben eines Fussballers, wurde mir bewusst, wie prekär dieser Abend und dieses Penaltyschiessen waren. In diesen kurzen Minuten entschied sich, wie Medien am nächsten Tag über das Team berichteten, ob Menschen in den sozialen Medien wüteten oder zelebrierten, wie dieses Team in den kommenden Wochen wertgeschätzt wird – oder eben nicht. 

Bei allen antretenden Penaltyschützen der Schweiz schwirren mir Tausende Gedanken durch den Kopf von «Mist, ich habe Angst, du verschiesst» bis zu «Ihr könnt das, glaubt an euch!». Und ständig habe ich im Hinterkopf, wie wichtig und entscheidend dieser Moment nicht nur fürs Weiterkommen in die Endrunde, sondern auch für das Image der Nati-Spieler ist. In dieser Endphase des Spiels erleben wir nochmals alles, was wir mit der Schweiz durch die ganze EM durchgemacht und an Qualität gesehen haben: Gavranovic – überzeugt und kräftig. Schär – eiskalt und locker. Akanji – souverän und präzise. Vargas – überzeugt und mit etwas Glück. Mehmedi – ruhig und abgekartet. Und Sommer – mit Mut und grosser Klasse.

«Alle brillierten in ihrer mentalen Stärke»

Am Schluss siegen sie. Sie bestanden diesen Test trotz dem immensen Druck. Trotz der Anspannung. Trotz dem Risiko, scheitern zu können und an diesem einen entscheidenden Schuss von der ganzen Schweiz gemessen zu werden. Auch ihnen muss klar gewesen sein: Im besten Fall wirst du zur Schweizer Legende, im schlechtesten zum verurteilten Versager. Doch an diesem Montagabend wuchsen die Schweizer Nati-Spieler über sich hinaus, brillierten in ihrer mentalen Stärke und sicherten sich einen Namen in der Schweizer Geschichte. Und schenkten mir den wohl emotionalsten Match meines Lebens. 

Von Sarah Akanji am 2. Juli 2021 - 14:00 Uhr