In Gummistiefeln stapft Bundesrätin Simonetta Sommaruga, 60, durch den Schnee am Titlis in Obwalden. «Hier spürt man die Natur noch so richtig», sagt die Magistratin, blinzelt in die Sonne und fügt ernst hinzu: «Aber man sieht auch, wie schnell der Klimawandel voranschreitet.» Zuvor in der Gondel zeigte ihr Bergbahnen-Sicherheitschef Gian Darms die Auswirkungen der Erderwärmung auf. «Der Gletscher verliert jährlich bis zwei Zentimeter an Dicke. Steigt die Durchschnittstemperatur weiter, löst er sich in einigen Jahrzehnten auf.»
Im Kampf für das CO2-Gesetz trifft Sommaruga auf 3020 m ü. M. zwei Verbündete: Ski-Olympiasiegerin Michelle Gisin, 27, und Alpen-Club-Präsidentin Françoise Jaquet, 64. Gisin engagiert sich als Botschafterin für die Organisation Protect Our Winters (Interview mit Michelle Gisin). «Es ist herzzerreissend, wie sich mein Heimgletscher in Engelberg immer mehr zurückzieht», sagt sie. Deshalb sei es so wichtig, jetzt etwas zu unternehmen. Dem pflichtet Jaquet bei: «Wir brauchen eine effektivere Klimapolitik!» Die drei Frauen verstehen sich auf Anhieb. «Machen wir Duzis», sagt Sommaruga und streckt Gisin und Jaquet ihre Faust entgegen: «Simonetta.»
«Schweizer Illustrierte»: Frau Bundesrätin, wann waren Sie das letzte Mal in den Bergen?
Simonetta Sommaruga: So hochalpin wie hier auf dem Titlis war ich diesen Winter nie unterwegs. Ich fahre auch nicht Ski, sondern gehe lieber langlaufen. Ausserdem bin ich eine leidenschaftliche Wanderin, übernachte gerne mal in einer SAC-Hütte.
Im letzten Jahr haben viele Schweizer mehr Zeit im eigenen Land verbracht. Hat Corona die Klimabewegung angekurbelt oder gebremst?
Die Pandemie hat viele andere Themen in den Hintergrund gerückt. Die Leute wissen aber, dass die Klimakrise nicht verschwunden ist. Gerade jene, die wie Michelle oder Françoise oft in der Natur unterwegs sind. Sie sehen, wie die Gletscher zurückgehen, sie erleben, wie der schmelzende Permafrost den Zugang zu den Hütten erschwert.
Eine CO2-Abgabe fürs Flugticket, steigende Preise für Benzin und Heizöl. Alle reden darüber, was sie das neue Gesetz kostet. Wie sieht die Rechnung bei Ihnen aus?
Ich habe nicht im Detail nachgerechnet, weil es beim CO2-Gesetz nicht um mich, sondern um das Klima und die kommenden Generationen geht. Mein Enkel ist gerade zur Welt gekommen. Im Jahr 2050 ist er 30. Ich sehe es als unsere Verantwortung, jetzt zu handeln. Mit dem Gesetz schützen wir das Klima – und wir schaffen Arbeitsplätze mit Zukunft.
Vielen Jungen geht das CO2-Gesetz aber zu wenig weit.
Ich verstehe ihre Ungeduld. Sie fragen sich, auf was für einem Planeten sie künftig leben. Auch meinen 21-jährigen Göttibuben beschäftigt das Thema. Doch lehnen wir das CO2-Gesetz ab, verlieren wir wertvolle Zeit.
- 120 FRANKEN: So viel beträgt die CO2-Abgabe auf ein Flugticket maximal bei einem Ja.
- 189 LÄNDER haben sich in Paris dazu verpflichtet, ihre CO2-Emmissionen zu senken. Auch die Schweiz.
- 1,9 GRAD: Um so viel wärmer ist es hierzulande seit 1864 im Schnitt geworden.
Für die Erdöllobby und die SVP ist klar: Das Gesetz führt zu einer massiven finanziellen Mehrbelastung.
Das stimmt nicht. Das Gesetz ist fair und sozial. Gerade Familien kommen gut weg. Aber klar: Wer häufig weit fliegt, bezahlt mehr. Das machen nur die wenigsten. Zudem: Was ist mit den Kosten, die wir heute wegen des Klimawandels bezahlen müssen? Etwa hier am Titlis, wo die Bergbahnen jährlich eine Million Franken für Fliesabdeckungen und andere Schutzmassnahmen ausgeben? Hinzu kommt, dass Tausende Jobs vom Wintertourismus abhängig sind. Klimaschutz ist eben auch Heimatschutz – und keine Parteifrage!
In den Bergen fahren viele Leute ein Auto oder heizen mit Öl. Zahlt nicht gerade die Landbevölkerung drauf?
Nein, sie steht sogar eher auf der Gewinnerseite.
Wie das? Eine Wärmepumpe ist eine teure Anschaffung!
Sie müssen immer die gesamte Rechnung anschauen. In verschiedenen ländlichen Kantonen heizt schon jetzt über die Hälfte der Haushalte ohne Öl oder Gas, sondern mit Holz oder einer Wärmepumpe. Sie zahlen null Franken CO2-Abgabe – und brauchen auch keine neue Heizung. Bei der Flugticketabgabe zahlen nur Vielflieger drauf. Diese wohnen eher in der Stadt.
«Als ich meinen Mini kaufte, gab es diesen noch nicht als Elektroauto»
Simonetta Sommaruga
Aber wieso reicht die Eigenverantwortung nicht aus?
Das Gesetz setzt eben gerade auf Eigenverantwortung und nicht auf Verbote. Das Prinzip ist einfach: Wer das Klima belastet, soll das nicht gratis tun. Wer Rücksicht nimmt, kommt gut weg.
Sie befinden sich mitten im Abstimmungskampf. Wegen der Pandemie können Sie nicht an Anlässen auftreten und mit dem Volk diskutieren. Macht Ihnen das Sorgen?
Ich schätze den Kontakt mit der Bevölkerung. Daher habe ich auch in der Pandemie den Austausch gepflegt, ich beantworte viele Zuschriften. Zudem besuche ich Firmen, die mir ihre klimafreundlichen Technologien vorstellen.
Fünf Tage zuvor. Auch im städtischen Dietikon ZH gehts für Sommaruga in die Höhe: Auf das Dach des Regiowerks von Limeco. Als passionierte Gärtnerin staunt die Bundesrätin, als sie wenige Meter neben dem Kamin der Kehrichtverbrennung Schnittlauch entdeckt: «Den Kräutern scheint es zu gefallen.» – «Hier kommt auch nur Wasserdampf raus!», sagt Limeco-Chef Patrik Feusi.
Kurz darauf blickt die Umweltministerin im Innern der Anlage auf das «heilige Feuer der Energiewende», wie Thomas Di Lorenzo, Leiter Abwasserwirtschaft, die Flammen der Abfallverbrennung nennt. Die Fernwärme reicht künftig, um über 40'000 Haushalte zu heizen. Und ab Herbst nützt Limeco die Energie zusätzlich, um die erste grosse Power-to-Gas-Anlage der Schweiz zu starten.
Stolz zeigt Di Lorenzo der Bundesrätin den «Zaubertopf», wie er den Bioreaktor nennt. «Die Power-to-Gas-Anlage produziert aus Abfall und Abwasser erneuerbares Gas.» Sommaruga ist begeistert: «Genau solche Technologien können wir mit dem CO2-Gesetz verstärkt fördern.»
«Schweizer Illustrierte»: Frau Bundesrätin, woher beziehen Sie Ihren Strom?
Simonetta Sommaruga: Von der Sonne! Ich habe seit diesem Jahr Solarpanels auf meinem Dach.
Und das reicht?
Sie wären überrascht! Ich wohne in der Stadt Bern, und selbst gegen Abend, wenn die Sonne kaum mehr scheint, wird weiterproduziert.
Und wie heizen Sie?
Ich wohne in einem älteren Haus und heize noch mit Gas. Mein Ziel ist es, bald an ein Fernwärmenetz angeschlossen zu werden – da habe ich mich bereits angemeldet.
Haben Sie ein Auto?
Ich bin praktisch immer mit dem ÖV unterwegs.
Praktisch immer?
Ich habe einen dunkelgrünen Mini. Der steht aber meist in der Garage. Ich benutze ihn vor allem für grössere Einkäufe oder Besuche bei Verwandten.
Wieso fahren Sie kein Elektroauto?
Als ich den Mini kaufte, gab es diesen noch nicht elektrisch. Die Entwicklung in den letzten Jahren war rasant.
Dann müssten Sie jetzt umsteigen!
(Lacht.) Falls ich je ein neues Auto brauche, wird es ein elektrisches sein.
Sind Sie selber schon mal gefahren?
Ja, es beschleunigt rasch und ist sehr leise. Dank dem CO2-Gesetz können wir übrigens den Bau von Ladestationen in Wohnsiedlungen und Mehrfamilienhäusern fördern.
Der Ausstoss von Treibhausgasen – insbesondere CO2 – ist die Hauptursache für den Klimawandel. Ziel des Gesetzes ist, diese Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 zu halbieren. Für Konsumenten heisst das höhere Lenkungsabgaben auf Heizöl und Gas. Für Neuwagen und Gebäude gibts neue Ziel- und Grenzwerte. Weil Importeure von fossilen Treibstoffen mehr CO2 kompensieren müssen, kann das zu höheren Benzinpreisen führen. Wer fliegt, muss künftig eine CO2-Abgabe zahlen. Die Abgaben fliessen zum einen in Klimafonds. Zum anderen werden sie an die Bevölkerung zurückverteilt – etwa durch niedrigere Krankenkassenprämien. SVP und Erdöllobby bekämpfen das Gesetz, alle anderen Parteien, Economiesuisse, Umweltverbände und Berggebiete sind dafür.
Wenn wir künftig mehr Elektroautos fahren und mit Fernwärme und Wärmepumpen heizen, brauchen wir mehr Strom. Woher soll dieser kommen, wenn wir zudem aus der Atomkraft aussteigen?
Würde die Schweiz nur schon alle geeigneten Dächer mit Solarzellen ausstatten, produzierten wir doppelt so viel Strom wie alle AKWs zusammen.
Und im Winter?
Da setzen wir auf die Wasserkraft. Zudem kommen verstärkt Technologien wie Power-to-Gas zum Zug, mit denen wir Energie speichern können. Wir nutzen alle klimafreundlichen Energien und Technologien, die vorhanden sind. So schaffen wir erstens Arbeitsplätze. Und zweitens sichert sich die Schweiz so einen Wettbewerbsvorteil und kann klimafreundliche Technologien künftig erst noch exportieren.
2020 wollten Sie als Bundespräsidentin Lösungen für die Klimakrise vorantreiben. Dann kam Corona – und Sie wurden zur Krisenmanagerin. Sind Sie froh, heute nicht mehr so exponiert zu sein?
Als Bundesrätin ist man immer exponiert. Letztes Jahr war mir wichtig, für die Bevölkerung in dieser schwierigen Zeit da zu sein. Das habe ich gern getan.
Sie sind seit Kurzem geimpft. Wie hat das Ihr Leben verändert?
Ich wollte warten, bis alle Risikopersonen Zugang zur Impfung hatten. Jetzt können sich in meinem Kanton alle impfen lassen. Auch wenn es vorwärtsgeht: Ich bin immer noch vorsichtig.
Sie erzählten letztes Jahr der SI, dass Sie Ihrer Mutter am Telefon Klavierstücke vorspielen.
Das mache ich immer noch! Aber ich kann sie zum Glück wieder im Altersheim besuchen. Der Unterschied zwischen der Gesundheits- und der Klimakrise ist: Bei Corona ist immer noch einiges unklar. Beim Klima wissen wir schon lange, was die Ursachen sind, und haben die Lösungen. Deshalb sollten wir jetzt keine Zeit verlieren.