«Hey, schaut mal, ich habe mir für dieses Jahr sogar Wanderschuhe gekauft!» SI-Videoreporterin Sina Albisetti ist zum zweiten Mal an der 1.-August-Wanderung der Schweizer Illustrierten dabei. Die Stimmung im Car, der uns an den Thunersee bringt, ist wie bei einer Schulreise. Karim Twerenbold, CEO des gleichnamigen Reiseunternehmens, ist zum dritten Mal dabei: «Auf jeder Bundesratswanderung lerne ich ein Stück unbekannte Schweiz kennen. Das Binntal, wo wir letztes Jahr mit Viola Amherd waren, hat mir so gut gefallen, dass ich es gleich in unser Wanderprogramm aufgenommen habe.»
Auf dem Platz vor dem Schloss Oberhofen wartet Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Auf ihren Vorschlag hin wandern wir heute am rechten Thunerseeufer zu den Beatushöhlen. «Für mich sind diese ein mystischer Ort. Als Kind war ich auf einer Schulreise zum ersten Mal hier», sagt die Magistratin.
Wobei das mit der Magistratin auf einer Wanderung eben ganz anders ist als sonst im Alltag einer Bundesrätin. Egal, wer mit ihr redet, berichtet ganz erstaunt vom gleichen Wunder. «Frau Sommaruga ist in natura ganz anders, als ich sie mir vom Fernsehen her vorgestellt habe», sagt die Freiburger Weinbäuerin Anni Simonet, die 2013 durch die SRF-«Landfrauenküche» bekannt wurde. Sie überlegt sich einen kurzen Moment, ob sie es sagen soll, und fügt dann hinzu: «Frau Sommaruga ist viel schöner als im Fernsehen.»
Vielleicht ist es das Geheimnis des Wanderns, sinniert die Bundesrätin später: «Bei Podien oder Veranstaltungen sitzt man meist vis-à-vis – quasi auf der anderen Seite.» Beim Wandern hingegen sei man einander näher. Entweder geht es wie beim schweisstreibenden Aufstieg vom Schloss Oberhofen zur Sigriswiler Hängebrücke meist in Einerkolonne hintereinander, oder man geht nebeneinander. In beiden Fällen hört man einander zu.
«Frau Sommaruga ist in natura viel schöner als im Fernsehen» SI-Leserin Anni Simonet aus Môtier FR
Selbst ein Politprofi wie Urs Schneider, der als Vizedirektor des Bauernverbandes seit vier Jahren den 1.-August-Brunch auf der Leserwanderung sponsert, stellt am Abend erstaunt fest: «Politisch habe ich ja nicht immer das Heu auf der gleichen Bühne wie die SP-Bundesrätin, aber heute war es sehr stimmig mit ihr. Sie hatte unterwegs für alle ein offenes Ohr.»
Diese Eigentümlichkeit des Wanderns betont Simonetta Sommaruga bei ihrer kurzen 1.-August-Ansprache nach dem Brunch, den die Sigriswilerin Sabina von Gunten mit Bäuerinnen
aus der Region in der Pfrundschüür neben der Kirche zubereitet hat. Hier in dieser Wandergemeinschaft mit den 120 Leserinnen und Lesern von SI und «L’illustré» spüre sie etwas von dem, was die Schweiz im Kern ausmache: «Menschen aus verschiedenen Landesteilen treffen sich, hören einander zu. Der Wille, die Schweiz gemeinsam zu gestalten, hält unser Land zusammen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, wie wichtig das ist.»
Dabei erfahren wir auch immer wieder, wie klein unser Land ist. Begrüsst wird Simonetta Sommaruga in Sigriswil von Gemeindepräsident Toni Ambühl – und gleich mit einer «alten» Geschichte konfrontiert: «Wissen Sie noch, dass wir vor 22 oder 23 Jahren miteinander telefoniert haben?» Die Bundesrätin runzelt die Stirn, Toni Ambühl klärt lachend auf: «Sie waren damals Konsumentenschützerin, und ich habe Sie kontaktiert, weil ich es schade fand, dass wir in Sigriswil unsere Bio-Milch mit der normalen konventionellen Milch zusammenschütten. Sie haben mir dann Adressen gegeben, bei denen ich mich melden konnte, um eine separate Abgabestelle zu erwirken.» Tatsächlich habe Sigriswil nun seit 2000 eine separate Sammelstelle für die Bio-Milch!
Beim gemütlichen Ausklang der Wanderung kommt die Bundesrätin erneut auf Ambühls Geschichte zurück: «Es freut mich, dass ich als Konsumentenschützerin Bio-Bauern konkret weiterhelfen konnte. Und es zeigt mir auch, dass man in der Schweiz etwas bewegen kann.»
Auch dafür, was der Bundesrat in der Pandemie bewegt hat, erhält Simonetta Sommaruga auf der Wanderung viel Lob und Achtung. So erzählt ihr Carunternehmer Twerenbold unterwegs nach Merligen, wie unbürokratisch er im Aargau Härtefallhilfe bekommen habe. «Wenn ich es mit anderen Ländern vergleiche, wo die Reisebestimmungen wegen Corona ständig ändern, muss ich einfach betonen, wie gut die Schweiz es alles in allem gemacht hat.»
Impfen oder nicht impfen beschäftigt auch die Genfer Psychologie-Lehrerin Sylvie Bertolote: «Sie sind als Journalist sicher geimpft, oder?» Sogleich mischt sich ihr Sohn Leonard, 10, ein und fragt Maman: «Papa ist geimpft, wieso bist du noch nicht?» – «Ja, ja, ich werde es auch noch tun.»
Und sie beschwichtigt den Journalisten: «Aber keine Angst, ich habe mich gestern extra für die Wanderung noch testen lassen.» Alle 120 Wanderer sind geimpft, getestet oder kürzlich genesen.
Wie bei jeder Schulreise gibt es einen kritischen Moment, an den sich alle auch Jahre später noch erinnern werden: Beim WC-Zwischenhalt auf dem Schulhausplatz in Merligen braut sich um 14 Uhr eine gewaltige Gewitterzelle zusammen. Es wird innert Minuten merklich kühler und windig. Der einheimische Jürg Zwahlen, der gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des Vereins Berner Wanderwege unsere Gruppe auf der vierstündigen Wanderung sicher ans Ziel bringen soll, schaut besorgt auf dem Smartphone den Wetterradar an: «Die letzten zehn Minuten hinauf zu den Beatushöhlen könnte es uns noch verhageln.»
«Ich habe keine Angst, ich habe mich gestern extra noch testen lassen» «L’illustré»-Leserin Sylvie Bertolote
In Merligen liegen überall Blätter rum, die vom letzten Hagelzug 24 Stunden zuvor richtiggehend zerlöchert sind. Geranien hängen kaputt vom Balkon runter. Das beeindruckt nicht nur Winzerin Petra Zimmermann und ihre Freundin Vreni Christen aus Oberflachs, die nicht verhagelt werden wollen. Auch die Bundesrätin geht auf Nummer sicher und steigt wie 40 weitere Wanderer in Merligen in einen bereitstehenden Bus, der direkt zu den Höhlen fährt. Eine Leserin bedankt sich am Abend bei der Reiseleitung: «Ich bin froh, dass die Bundesrätin in Merligen den Bus genommen hat, ansonsten hätte ich mich irgendwie dazu verpflichtet gefühlt weiterzuwandern, obwohl ich recht Angst vor dem Gewitter hatte.»
Ein Happy End gibts zum Glück aber auch für alle, die zu Fuss weiterwollen: Ohne einen Tropfen Regen kommen sie in den Beatushöhlen an, wo der letzte Höhepunkt wartet. Unter kundiger Führung von Marc Schneider von der Beatushöhlen-Genossenschaft gehts 1000 Meter in den Berg rein und wieder raus. Und pünktlich zum Ende der Schulreise beginnt es in Strömen zu regnen.
Mitarbeit: Thomas Kutschera, Nina Siegrist.