Manchmal geht sie in den Wald und lauscht den Klängen der Natur. «Eigentlich ist alles irgendwie Musik», sagt Lisa Streich (39) und fährt dabei mit dem Bogen über die Saiten ihrer Geige. «Die Stimmungen, die zufälligen Akkorde, die feinen Zwischentöne interessieren mich.» In ihrem paradiesischen Refugium inmitten eines waldigen Küstenstreifens auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland findet die Komponistin Klangvielfalt im Überfluss. Der Wind spielt durch die Zweige und Äste, Vögel zwitschern, und nicht weit entfernt ist das Meer, an dessen felsiges Ufer plätschernd und gurgelnd die Brandung schlägt. Neuerdings donnert ab und an auch ein Kampfjet der Nato über den Küstenstreifen hinweg. Seit dem Ukraine-Krieg und Schwedens Beitritt zum westlichen Militärbündnis ist Gotland zu einem strategischen Brückenkopf geworden. Und ihr Idyll damit zerstört? «Ich habe hier nicht zwingend Idylle gesucht», sagt Lisa Streich. «Darüber hinaus ist das Militär im Süden und im Osten der Insel, also kriege ich davon relativ wenig mit. Aus künstlerischer Sicht ist das aber durchaus interessant und ein spannender Kontrast: auf der einen Seite dieses Paradies, die Hoffnung auf das Schöne. Und gleichzeitig die europäische Angst vor der eskalierenden Weltlage und dass das hier wirklich einmal aufeinanderprallt. Das ist ein gewaltiger Gegensatz.»
Lisa Streich liebt die Extreme und das Überschreiten von Grenzen. Auch in ihren Kompositionen. «Wenn Musik Grenzen sprengt, öffnet sie einen Rahmen zum Dialog, sowohl für den Komponisten als auch für die Musikerin und den Zuhörer», sagt sie. «Ich glaube, das ist das Essenzielle. Denn Musik ist so vielschichtig. Im Konzertsaal empfindet jeder etwas anderes. Dennoch erlebt man es gemeinsam. Das zeigt, dass Musik viele Wahrheiten beinhalten kann.»
Aus Langeweile ans Klavier
Lisa Streich wird 1985 im schwedischen Provinzbezirk Norra Råda geboren und wächst im Weiler Uddeholm nahe der Grenze zu Norwegen auf. «Weil dort so wenig los war, habe ich immer Klavier gespielt – aus Langeweile sozusagen», erinnert sie sich. Ihre Mutter, eine Englischlehrerin, zeigt ihr die C-Taste und legt Noten aufs Pult, den Rest bringt sie sich selbst bei. Dann bekommt ihr Vater einen Job in Hamburg, und die Familie zieht um in die Provinz von Schleswig-Holstein. «Von Niemandsland zu Niemandsland», wie Lisa sagt. «Also blieb mir nichts anderes übrig, als weiter Klavier zu üben.» Mit 14 schreibt sie erste kleine Stücke. «Die klangen recht traditionell», erzählt die Musikerin. «Sie waren eher geprägt von dem, was in meinen Fingermuskeln einprogrammiert war, als von Herz oder Kopf.» Ihr grosses musikalisches Aha-Erlebnis hat sie, als ihre Mutter mit ihren Schülern die «West Side Story» aufführt. «Das hat mich sehr beeindruckt», erinnert sich Lisa. «Da habe ich zum ersten Mal Musik wirklich erlebt. Kurz danach hörte ich das Musical ‹Anatevka›, das mich genauso faszinierte.» Dass Musik einmal ihr Beruf werden soll, kann sie sich damals nicht vorstellen: «Ich liebte das Klavierspielen, aber ich fand es immer schrecklich, auf der Bühne zu sein. Und ich dachte: Wer mit Musik Geld verdienen will, muss auf der Bühne sein.»
In Berlin folgt ihr entscheidendes Erlebnis: Sie hört ein Werk der Komponistin Rebecca Saunders. Da wird ihr klar: «Das will ich: mein Leben lang Musik machen, ohne auf der Bühne stehen zu müssen!» Ihr Studium führt sie zu den Grossen der zeitgenössischen Musik, nach Stockholm, Salzburg, Paris und Köln – und schliesslich auch nach Luzern. Die Lucerne Festival Academy verschafft ihr 2015 im Rahmen des Förderprogramms der «Roche Young Commissions» einen Kompositionsauftrag und damit verbunden die Umsetzung mit dem exzellenten Orchester der Lucerne Festival Academy. «Es war mein erstes richtiges Orchesterstück und hat meine Liebe zur Orchestermusik zur Entfaltung gebracht», erinnert sich Lisa. «Eine Erfahrung, von der ich heute noch zehre und die mich in grosser Dankbarkeit mit dem Lucerne Festival verbindet. Ohne dieses wäre mein Leben vielleicht ganz anders verlaufen.» Heute ist Lisa Streich eine der renommiertesten Komponistinnen überhaupt. Ihre Werke werden weltweit von den bedeutendsten Dirigenten und Orchestern in den bekanntesten Konzerthäusern aufgeführt – von den Berliner Philharmonikern bis zum Elbphilharmonie Orchester, der Bayerischen Staatsoper und dem Ensemble Intercontemporain. Diesen Sommer gastiert sie als «composer-in-residence» beim Lucerne Festival.
Als alleinerziehende Mutter von drei Kindern steht die weltoffene Frau mitten im Leben. Wenn sie in ihrer Hängematte einen Poesieband des anarchischen italienischen Schriftstellers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini liest, hat sie etwas von der Unbekümmertheit Pippi Langstrumpfs, deren Filme auf Gotland gedreht wurden. Lisas Villa Kunterbunt ist ein stylisches, grosszügiges Holzhaus. Es wurde nach ihren Wünschen aus dem Holz der Kiefernbäume gebaut, die auf der Ostseeinsel wachsen. Im Wohnzimmer steht ein Flügel, in ihrem Zimmer ein Arbeitstisch, auf dem Stifte, Notenblätter und Skizzenbücher ausgebreitet sind. Aus der alten Kanne duftet der Espresso, ein mechanisches Metronom steht parat, um wenn nötig das Tempo zu kontrollieren. Lisa Streich bei der Arbeit. Sie schreibt gerade an «Reigen», einer neuen Komposition, die zur Eröffnung des diesjährigen Lucerne Festival uraufgeführt wird. Gespielt im KKL Luzern von einem Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Dirigentin Johanna Malangré. «Normalerweise brauche ich für so ein Werk etwa ein halbes Jahr», sagt Lisa. «Dieses Mal hatte ich etwas weniger Zeit.»
Die Musik von Lisa Streich ist nicht bloss eine Abfolge von Melodien oder Akkorden. Man könnte sie viel eher als Klangskulptur bezeichnen, die kontinuierlich ihre Erscheinungsform ändert und in verschiedensten Facetten schimmert. Vielleicht kein Zufall: Eine wichtige Inspiration für ihre Kunst hatte sie in ihrer Studienzeit bei einer Begegnung mit dem Tinguely-Brunnen auf der Place Igor-Stravinsky in Paris. «Es war November, frühmorgens. Die Motoren hatten Frost im Getriebe und haben auf eine ganz eigene Art ‹gesungen›. Wunderschön und liebevoll. Musik, die keine klassische Hörgewohnheit erforderte, sondern für alle gleichermassen erlebbar war.»
Lisa Streich geht es bei der Musik nicht nur um den Klang, sondern um die Gesamtwirkung ihrer Aufführung und des Live-Erlebnisses. Sie nennt das die «Essenz». «Ich kann nicht in einer 100 Jahre alten Sprache schreiben, sondern möchte beim Zuhörer neue Gedanken erzeugen, ein Zeitgefühl widerspiegeln, sodass die Musik zu einem Zeitdokument wird.» Manchmal ergänzt sie das klassische Instrumentarium dabei um kleine «Musikmaschinen», die sie früher in einer Werkstatt selbst entworfen hat und mit denen sie die Instrumente erweitert. «Dadurch erhalte ich eine andere Ebene, denn die Erwartungen, die wir an einen Motor haben, sind ganz andere», so Streich. «Je mehr Gedanken und Assoziationen wir beim Zuhörer wecken, desto vielfältiger wird das Kunstwerk.»
Lieblingsdrink und The Kinks
Hat sie beim Komponieren auch schon mit künstlicher Intelligenz experimentiert? «Nein. Ich glaube nicht, dass die KI schon in der Lage ist, Essenz zu schaffen», sagt Lisa Streich. «Ich zweifle, ob sie das je kann. Denn jeder Tag hat ein neues Zeitgefühl, und ich denke, dass die künstliche Intelligenz dem immer ein wenig hinterherhinkt.»
Ein Gespräch mit dieser faszinierenden Künstlerin, die Musik mit allen Sinnen erfasst, kann tiefgründig sein. Aber auch locker und alltäglich. Warum ist sie auf Gotland gelandet? «Ich liebe das Meer. Es gibt mir das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein», sagt sie. «Zudem ist Gotland für mich reisetechnisch günstig gelegen.» Während sie in der Küche ihren Lieblingsdrink serviert – Pastis mit schwedischem Violet-Sirup und frischer Pfefferminze aus dem eigenen Garten –, tönen aus den Lautsprechern der Musikanlage die Songs der englischen Rockband The Kinks. «Ich wünsche mir, dass Rockmusik gleichberechtigt neben Klassik und neuer Musik existiert», so Lisa Streich. «Es ist wichtig, so viele Stimmen wie möglich zu hören.»