Ein bisschen erinnert er an Schellenursli, der Daniel Yule, wie er mit seiner Glückskappe und der Glocke durch den Schnee stapft. Auch seine Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf, wenn auch nicht im Engadin, sondern im Val Ferret im Wallis, im Montblanc-Gebiet. Und auch Daniel will die grösste, die wichtigste Glocke unbedingt.
Andere Fahrer sind talentierter. Andere stellen im Training Bestzeiten auf. Doch wenn Yule etwas will, findet er eine Lösung. Und er ist ein Rennhund. Er ruft seine beste Leistung dann ab, wenns drauf ankommt. Und genau so holt er sich am vergangenen Sonntag in Adelboden BE die Siegerglocke als erster Schweizer seit zwölf Jahren. Die Tribüne am Fuss des Chuenisbärgli erzittert wie schon lange nicht mehr.
Der 26-Jährige ist der erste Schweizer Mann, der im Slalom mehr als zwei Weltcupsiege feiern kann. Ein Rekord, den sein eigener Vater noch am Rennabend relativiert. «Er sagte: ‹Das war jetzt nicht so, so schwierig zu schlagen›», erzählt der Sohn lachend. «Es sei einfacher gewesen, der beste Schweizer Slalomfahrer zu werden als der beste Abfahrer.»
Damit hat Andrew Yule recht (Abfahrts-Rekord: Peter Müller mit 19 Weltcup-Siegen). Womit wir nun mitten in Branche d’en Haut mit seinen zehn bis fünfzehn Einwohnern angekommen sind, darunter fünf Yules. Die Worte des Vaters haben nämlich nichts mit einer übertriebenen Erwartungshaltung in der Familie zu tun, sondern eher mit britischem Humor.
Der Engländer landete als 18-Jähriger zum ersten Mal in diesem abgelegenen Walliser Dorf, als er einen Französisch-Sprachaufenthalt mit Skitouren kombinieren wollte. Immer wieder zog es ihn hierher zurück, und einmal lernte er dabei die Schottin Anita kennen, die gerade in den Skiferien war. Sie blieben und gründeten eine Familie. Und so kam es, dass der beste Schweizer Slalomfahrer der Geschichte auch schon schottischer Meister war.
Lang ists her. Damals sahen die Trainer in Daniel Yule noch keinen zukünftigen Weltcupsieger. Auch er fährt lange einfach zum Spass. Er verzichtet gar auf die Sportschule, absolviert die normale Matura. Mit dem Kopf werde er mal sein Geld verdienen, nicht mit den Beinen, sagt der Vater jeweils. Auch der Sohn mag die Schule, er lernt gerne Neues, will die Hintergründe verstehen, braucht neben dem Sport etwas für den Geist. In den vergangenen Jahren hat er ein Fern-Wirtschaftsstudium abgeschlossen, Teamkollegen munkeln, man habe ihn nie lernen sehen und dennoch habe er alles mit Bravour bestanden.
Noch heute fährt er gerne zweigleisig. Mit einem Jugendfreund und einem chinesischen Partner hat er in China eine Skischule eröffnet. Dies im Skigebiet Thaiwoo, Wettkampfstätte an den Olympischen Spielen 2022. Dank einer neuen Zugstrecke erreicht man die Pisten von Peking aus in knapp zwei Stunden, was für den Skisport dort ein enormes Potenzial birgt. Yule amtet vor allem als Investor und übernimmt Marketingaufgaben. «Es ist ein spannendes Projekt und eine coole Erfahrung!»
Den Reiz der Herausforderung sucht Daniel Yule sogar in der Liebe. Er ist Single, hat aber spätestens seit seinem charmant-lockeren Auftritt im «Sportpanorama» nach Adelboden eine Schar Verehrerinnen dazugewonnen. Die Mischung aus seiner offenen Art, dem britischen Humor und der Zielstrebigkeit kommt an. Wie müsste seine Traumfrau denn sein? «Sportlich, das ist wenig überraschend», sagt der 1,87 Meter grosse Modellathlet. «Vor allem aber muss sie mich fordern, gerade im Gespräch.»
«Daniel hat jetzt Blut geleckt. Nun interessiert ihn nur noch der Sieg»
Matteo Joris, Trainer
Menschen, die nur Ja sagen, interessieren ihn wenig, ob in der Liebe oder im Sport. Zu Hause am Familientisch wurde stets viel diskutiert, und auch im Gespräch mit Erfolgstrainer Matteo Joris mag er es, «wenns mal hart auf hart geht. Ohne Kritik komme ich ja nicht weiter.»
Yule ist in den vergangenen Jahren mutiger geworden. Fühlt sich wohl dabei, auszudrücken, was er denkt. «Wenn du etwas falsch findest, darfst du das auch sagen. Egal, ob du gerade gut oder schlecht fährst.» Das hat er auch von seinem langjährigen Freund und Teamkollegen Justin Murisier, 28, gelernt, Typ Draufgänger: Wenn du etwas willst, musst du es dir selber holen. Von alleine kommt es nicht.
Und so ist Yule auch Athletensprecher, setzt sich im Skisport für die Anliegen der Fahrer ein. Er steht hin und kritisiert auch mal FIS-Präsident Gian Franco Kasper, wenn dieser den Klimawandel verharmlosen will. Mit der Aufmerksamkeit hat er kein Problem, aber erst, wenns ums Skifahren geht, findet er sie richtig stimulierend. Er liebt Nachtslaloms, wenn das Flutlicht die ganze Aufmerksamkeit auf die Piste lenkt, der Athlet im Fokus steht. Dann dreht er zur Höchstform auf.
Doch obwohl er um dieses Wettkampf-Gen weiss: Frustriert ist der Walliser nach wie vor, wenn er im Training nicht das umsetzen kann, was er sich vorgenommen hat. Nach dem letzten Training vor seinem Sieg in Madonna di Campiglio (I) Anfang Januar hat er Kopfschmerzen, so sehr regt er sich über seine Leistung auf: «Ich weiss, wie es geht, aber schaffe es nicht!»
Kontrolle ist ein grosses Thema in Yules Leben. Seine Liebe zu Ritualen – andere nennen es Aberglaube – teilt er mit Trainer Joris. Dieselben Abläufe in den zwei Tagen vor den Rennen, dasselbe Unterleibchen, derselbe Kragen, das neongrüne Glückskäppi, das bereits Löcher hat – das gibt ihm in der Rennvorbereitung Ruhe.
Den Rest holt er sich mit dem Erfolg. Der erste Weltcupsieg vor gut einem Jahr in Madonna di Campiglio war der Wendepunkt, hat ihm das nötige Selbstvertrauen gegeben. «Er hat jetzt Blut geleckt», sagt sein Trainer, «nun interessiert ihn nur noch der Sieg.» Seinen starken Kopf kann er jetzt erst recht ausspielen. Bei zwei seiner drei Weltcupsiege führte er bereits nach dem ersten Lauf, doch diesen Druck liebt er.
An dieser Stelle muss Daniel Yule über sich selber lachen. Er hat in La Fouly – ein paar Kilometer von seinem Elternhaus entfernt – eine Wohnung gekauft und sitzt nun ab und zu etwas unschlüssig im Büro des Architekten. «Druck im Rennen – gerne», sagt er. «Aber wenn ich aus 50 Parkett-Varianten die falsche wähle, wird mir das noch sehr lange vor Augen geführt.»
Im Mai soll das neue Heim bezugsbereit sein. Dann ist auch die Golfsaison voll im Gang. Vielleicht mit einem neuen Putter für Yule. Den hat er sich vor dem Winter im Falle einer erfolgreichen Skisaison nämlich selbst versprochen. «Ich hoffe, den habe ich mir nun verdient!» Damit Schellenursli die Siegesglocke nicht nur auf dem Weiss, sondern auch auf dem Green schwingen kann.