Er war der beliebteste und berühmteste Schweizer Schriftsteller der letzten Jahrzehnte. Gleichzeitig der Schriftsteller, der am wenigsten geschrieben hat. Nur wenige Bücher umfasst sein Werk, doch die Sätze, die darin stehen, haben sich Generationen von Leserinnen und Lesern ins Gedächtnis gebrannt. Und wer seine nasale Stimme einmal gehört hat, bringt sie nicht mehr aus dem Ohr.
Vorhang auf für den Stammgast: Bichsel tritt 2010 ins Restaurant Kreuz in Solothurn, die Genossenschaftsbeiz, die ihm zweite Heimat war.
KeystoneBereits beim ersten schmalen Band mit dem Titel «Eigentlich wollte Frau Blum den Milch- mann kennenlernen» (1964) wurde er von der Kritik mit Lobeshymnen überschüttet, wurde subito zum Klassiker für Klassenzimmer. Dann aber kam lange nichts mehr vom Solothurner, der eigentlich Förster werden wollte, dann als passionierter Primarlehrer seinen Lebensunterhalt verdiente, mit seiner Frau Therese und zwei Kindern stets in Bellach bei Solothurn lebte und immer schrieb – einfach weniger als alle andern. Das lange Stück war nicht sein Ding.
Der Legastheniker hat schon mit zwölf Gedichte verfasst und damit einen Preis gewonnen, bekundete aber immer Mühe mit dem Schreiben. Er brauche viel Zeit, bis nach dem ersten und dem zweiten Satz endlich der dritte daherkomme. Woher er komme, wisse er selber nicht. Sagte er. Aber jeder Satz trifft. Beim Lesen seiner melancholisch gefärbten Kurzgeschichten fühlt sich jede und jeder ganz persönlich angesprochen, man denkt, genau so, wie hier beschrieben, ist es.
Modebewusst, geradezu kokett
Man durfte ihm nur nicht auf den Leim gehen. Bichsel war stets ein Mann des Understatements, der Untertreibung: Er beeindruckte durch seine Attitüde des leisen, leicht verschrobenen Künstlers, der mit seiner näselnden Stimme viel in Parabeln sprach, also zum Beispiel sagte, er sei ein «leidenschaftlicher Pessimist», weil er etwas gegen die Optimisten habe. Aber wenn es keine Optimisten mehr gäbe, würde er vielleicht selber einer. Typisch Bichsel. Dazu passt auch seine etwas negative Definition von Heimat: «Heimat ist dort, wo mein Ärger ist.» Den Begriff «Positives Denken» fand er grässlich.
Jahrzehnte des Schreibens, Jahrzehnte des Sammelns: Bichsel in seiner Schreibstube in der Solothurner Altstadt.
Kurt ReichenbachEr war sich der Qualität seiner Texte und des hohen Ranges, den er schnell in der deutschen Literatur erreicht hatte, wohl bewusst. So wie er auch modebewusst, geradezu kokett war: seine Bérets, seine Hosen und sein Ledergilet mit Uhr und Uhrkettli (!) waren nur vom Besten, mit dem Kennerblick eines Mannes ausgewählt, der sich schon als Kind mehr für Mode als für Autos oder Fussball interessierte. Er las Frauenzeitschriften und konnte die Modekollektionen besser unterscheiden als Automarken.
Bichsel wusste auch, wie man ein grosses Publikum findet: mit Kolumnen, die in einer Zeitschrift erscheinen, die von einem Millionenpublikum gelesen wird. So schrieb er während fast 30 Jahren für die Schweizer Illustrierte. Er sagte: «In ein Buch stolpert mir niemand. In die Schweizer Illustrierte stolpern mir viele Leute hinein.» So ist es.
Der schreibende Lehrer: Bis 1968 arbeitet Bichsel als Primarlehrer, danach widmet er sein Leben dem Schreiben (Bild: 1965).
ullstein bild via Getty ImagesMindestens eine ganze Woche brauche er, um die Kolumne zu schreiben, gestand er. Und wollte damit wohl ausdrücken, dass das Honorar, das wir ihm bezahlten, durch harte Arbeit gerechtfertigt war.
Als Chefredaktor der SI besuchte ich ihn so zum Mitarbeitergespräch: Vorher meldete er mir, er habe eine Reklamation. In einer Solothurner Beiz erklärte er dann, dass die Serviertöchter gern die Kreuzworträtsel der SI lösen würden, aber es gehe zu lange, bis sie ein Wort gefunden hätten. Normalerweise komme die Serviererin zum Ausschank und warte auf das nächste Glas, in dieser kurzen Zeit schreibe sie schnell ein Wort ins Rätsel. Wenn es zu schwierig sei, müsse sie passen. Ich forderte bei unserer Agentur sofort ein leichteres Kreuzworträtsel an. Bichsel meldete, die Serviertöchter seien dankbar. Und ich hatte doch gedacht, Bichsel wolle über die Qualität des Blattes reden.
Die Legende, dass Bichsel seine Geschichten in der Beiz finde, im «Kreuz» oder im «Löwen», dementierte er stets heftig: «Ich gehe in die Beiz, um allein zu sein, allein unter Leuten. Ich habe die Geschichten nicht in der Stammbeiz gefunden. Schreiben kommt vom Lesen. Ich habe die Welt durch die Bücher, die Filme kennengelernt.» Seine Geschichten schreibe er in seinem Büro, wo er am Tisch sitze, warte, denke und hirne. «Die Geschichten kommen aus dem Kopf, aus dem Bauch, und nicht aus der Umgebung», sagte er.
Schriftstellerkollegen und Freunde: Jörg Steiner (1930–2013) und Peter Bichsel 2002 am Bahnhof Biel vor einer Gauloises-Reklame.
KeystoneParis war ihm im Kopf wertvoller als in echt
Trotzdem führte sein Weg immer wieder in die Beiz. Während der Solothurner Literaturtage, die er mitgegründet hatte, hielt er im «Kreuz» Hof. Das Gedränge um den Solothurner Platzhirsch schien ihm nicht zu missfallen. Jeder wollte eine seiner spontanen «Punchlines» aufschnappen, Sätze, die so originell daherkamen, dass man sie aufschreiben musste. Lapidar Alltägliches wie: «Ich esse gern Teigwaren, die sind gäbig wegen dem Darm, die halten länger, wenn der Weg zum WC so lange ist …» Oder Philosophisches wie: «Ich weiss, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn.»
Gern schrieb er auch im Zug. Er hatte seine Texte immer schon auf einer Schreibmaschine verfasst. Und früh den Laptop entdeckt, das kleinste Modell, das er in den Zug mitnehmen konnte. Er reiste gern von Solothurn nach Genf und retour, zum Rausgucken und zum Schreiben.
Seine erste und einzige Zugreise in die Sehnsuchtsstadt Paris wurde vom Dokumentarfilmer Eric Bergkraut im Film «Zimmer 202» aufgezeichnet. Darin spielte Bichsel den Realitäts-Snob. Er verliess das Hotelzimmer nur für kurze Einkäufe. Er wolle sich das Bild, das er sich von Paris durch das Lesen und die Filme in seinem Kopf geschaffen habe, nicht durch einen Besuch der Stadt verderben lassen, erklärte er. Die Sehnsucht nach Paris sei so gross geworden, dass jede Erfüllung nur eine Enttäuschung werden könne.
2015 in der Freitagsgalerie Imhof in Solothurn. An der Wand hängt ein Bild von Elsbeth Leisinger aus einer Porträtserie Bichsels von 1969.
KeystoneDabei war er ein grosser Fan der Tour de France, deren Schlussetappe auf den Champs-Élysées ihm am besten gefallen hat, «denn da passiert nichts mehr». Er freue sich seit 50 Jahren darauf, am Fernsehen die Spitze des Eiffelturms zu entdecken. Er habe ihn nie in Wirklichkeit gesehen.
Bichsel hatte lieber «das sekundäre Leben», er wollte lieber schauen als aktiv werden, lieber hören, lieber lesen als hingehen, er wollte sich seine Bilder selber machen. Wegen seiner besonderen Art, die Menschen zu beobachten, haben Kritiker sogar den Begriff «Bichselwatching» geschaffen: Die Welt betrachten wie Bichsel.
Schreiben aus dem Nebel
Der überzeugte Sozi war auch längere Zeit persönlicher Berater von SP-Bundesrat Willi Ritschard, es hiess, er habe die Reden des Solothurners geschrieben. Die beiden machten jeweils am Wochenende eine Wanderung über den Grenchenberg, bei der sie das Regieren in Bern besprachen. Oder Kuriosa: Er solle doch mal fragen, was für Staatsgeheimnisse es gebe, suggerierte Bichsel dem Minister. Das Resultat, das Ritschard ihm überbrachte: Es gibt keine Staatsgeheimnisse, hat man mir gesagt. Oder man hält sie auch vor Bundesräten geheim. Ritschard starb 1983 auf einer Wanderung am Grenchenberg, erst 65-jährig.
«Ich will am Stück sehen und anfassen, was ich später esse.» Darum dreht Bichsel das Fleisch selber durch den Wolf, wie er dem SI-Team 2015 zeigt.
Kurt ReichenbachEs gibt und gab am Jurasüdfuss zwischen La Neuveville und Aarau erstaunlich viele erfolgreiche Schriftsteller. Das hat vielleicht etwas mit den langen Nebelperioden im Winter zu tun, Jörg Steiner, Erica Pedretti, Otto F. Walter, Hermann Burger, Alex Capus, Pedro Lenz, Franz Hohler, Peter Bichsel und viele andere. Ihr Übervater ist der Bieler Robert Walser.
Der Nordic Thriller kommt aus der Kälte, die Jurasüdfussliteratur aus dem Nebel. Diese Literatur hat einen gemeinsamen Nenner. Die leicht melancholische, lakonisch knappe Beschreibung des Alltags von Menschen und ihren Träumen, Geschichten ohne Mord und Totschlag. Wenn man einen von ihnen ärgern will, braucht man nur zu sagen, du walserst. Oder: du bichselst. Keiner hört es gern, aber eigentlich ist es das höchste Kompliment.