Die Nacht war kurz, die Freude riesig. Am Morgen nach dem Abstimmungssonntag öffnet Jelena Filipovic (32) die Tür ihrer Wohnung in Bern. «Ich kann es noch nicht ganz fassen», sagt die Co-Präsidentin des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS). Sie hat an vorderster Front mitgeholfen, den milliardenschweren Ausbau der Autobahnen zu stoppen – ein historisches Nein in der Schweiz.
Wenige Stunden zuvor jubelte die Berner Stadträtin noch Seite an Seite mit Grünen-Chefin Lisa Mazzone und SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, die Stimmung im Restaurant Grosse Schanze war euphorisch. Filipovic war schweizweit noch wenig bekannt – doch das änderte sich in diesem Augenblick. «Für diesen Sieg war Jelena als Co-Präsidentin des VCS entscheidend», sagt Lisa Mazzone. «Sie hat mit Herzblut für die Sache gekämpft, das braucht die grüne Bewegung.»
Mattea Meyer schliesst sich an: «Jelena hat für Dynamik in der Kampagne gesorgt. Mit ihr hat eine junge Verkehrspolitikerin mit Migrationshintergrund einen modernen VCS präsentiert. Das hat viel zum Abstimmungserfolg beigetragen.»
Eine Kindheit in Serbien
In ihrer Wohnung im Tscharnergut, einem Quartier mit Hochhäusern, günstigen Mieten und vielen Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationsgeschichte, trinkt Filipovic einen Kaffee. Dass sie nur wenig geschlafen hat, ist ihr nicht anzusehen. Sie lebt in diesem Block, seit sie vor sechs Jahren nach Bern gezogen ist. «Ich mag es hier. Während meines Studiums in Zürich habe ich in Schwamendingen gewohnt. Das ist ähnlich lebendig.»
Filipovic wurde in Serbien geboren, wuchs in einem kleinen Bergdorf auf. Mit sechs Jahren kam sie mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester während des Kriegs in die Schweiz. In Basel bekam sie noch zwei weitere Schwestern. «Politik war bei uns nie ein Thema – auch wenn wir wegen ihr geflüchtet sind.» Die Integration in der Schweiz habe sie geprägt. «Ich hörte oft, ich könne sowieso nichts erreichen ohne Schweizer Pass. Ich dachte mir: Dann mache ich es halt extra!» Inzwischen ist sie eingebürgert und hat eine der typisch schweizerischen Eigenschaften verinnerlicht: persönliches politisches Engagement.
«Ich habe früh gespürt, dass die Welt ungerecht ist. Das wollte ich ändern.» Vor fünf Jahren organisierte sie eine nationale Demo mit Zehntausenden Teilnehmenden in Bern. «Wenn Jelena sich für eine Kampagne oder ein Anliegen einsetzt, hat das erste Priorität, und vieles andere wird zur Nebensache», sagt ihr Kollege Dominik Waser (26), Zürcher Grünen-Gemeinderat. «Da sie viel investiert, ist sie sehr erfolgreich und wird geschätzt.»
Ein Bundesrat als Gegner
Seit vier Jahren sitzt Filipovic im Parlament der Stadt Bern, seit Sommer ist sie Co-Präsidentin des VCS. Mit der Allianz «Stopp Autobahn-Bauwahn» mobilisierte sie über 40 Organisationen, Verbände und Parteien gegen das 4,9-Milliarden-Franken-Projekt. Auf der Gegenseite: Bundesrat und Verkehrsminister Albert Rösti (57), der unermüdlich durchs Land reiste, Reden hielt, Podien und Kantonsschulen besuchte, ein Interview fahrend im Auto gab und in der «Arena» auftrat – wo er auf Jelena Filipovic traf. «Die Begrüssung war freundlicher als der Abschied», erzählt sie mit einem Schmunzeln. «Klar, das war schon ziemlich aufregend. Ich bin den Medienrummel nicht gewohnt. Aber das gehört halt dazu.»
Der Kampf war hart. Immer wieder bekam sie Hassmails und Drohungen. «In der öffentlichen Debatte wird man als junge Frau mit Migrationsgeschichte oft mit Hass und Frauenfeindlichkeit konfrontiert», sagt sie. «Das zeigt, wie patriarchal unsere Gesellschaft noch ist. Ich setze mich deshalb auch für feministische Anliegen ein.»
Aufs Bremspedal getreten
Und nun das: 53 Prozent der Stimmbevölkerung sagen Nein zu einem weiteren Ausbau des 1550 Kilometer langen Nationalstrassennetzes, zum ersten Mal überhaupt! «Ich wusste, dass es schwer wird, aber es war eine Chance, die wir unbedingt nutzen mussten», so Filipovic, die selber nicht Auto fährt.
Aber was sagt sie der Million Schweizerinnen und Schweizer, die Ja gestimmt haben. Und denen, die jeden Tag im Stau stehen? «Der Ausbau hätte ihnen nichts gebracht. Ausser 20 Jahre Bauarbeiten, die zu noch mehr Stau geführt hätten. Das bestätigen auch Verkehrsexpertinnen und -experten.»
Die Verlierer auf bürgerlicher Seite machen die Einwanderung für die Staustunden verantwortlich und fordern eine strengere Migrationspolitik. Dazu sagt sie: «Die Nachabstimmungsbefragungen zeigen, dass das nicht stimmt. Ausschlaggebend war die Angst vor mehr Verkehr und die Sorge ums Klima.»
Filipovics Eltern, beide Büezer, fahren täglich mit dem Auto zur Arbeit. Sie haben Nein gestimmt. «Viele Arbeiterinnen und Arbeiter mit tiefem Lohn waren dagegen.» Am Sonntag rief ihr Vater an, um zu gratulieren. «Ich hatte keine Zeit, dranzugehen. Freunde hielten mir das Handy ans Ohr.»
Aber wie sieht denn die Lösung beim Stauproblem aus? «Wir müssen die Verkehrsflüsse optimieren.» Mehr Velowege, stärkeren öffentlichen Verkehr. Der Güterverkehr müsse von der Strasse auf die Schiene, die Rushhour brauche Entlastung durch flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und Temporeduktionen.
Filipovic glaubt, dass die Abstimmung ein Umdenken eingeläutet hat. «Viele Menschen haben erkannt, dass man Stau nicht mit noch mehr Strassen löst. Es war ein klares Signal für Klimaschutz und nachhaltige Mobilität.» Jelena Filipovic hat etwas bewirkt. Und das ermutigt sie auch für die Zukunft.