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Das Wunder von Tallinn

So feiert Lukas Britschgi seinen historischen EM-Sieg

78 Jahre lang musste die Schweiz auf diesen Triumph warten. Der Eiskunstläufer kam ohne grosse Erwartungen – und verlässt Estland als Europameister. Lukas Britschgi begeistert mit einer Traumkür. Er kann es selbst noch gar nicht fassen.

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Mit seinem EM-Sieg überraschte Lukas Britschgi.

Mit seinem EM-Sieg überraschte Lukas Britschgi.

Nicolas Righetti

Über Nacht ist er ein Star geworden: Als Lukas Britschgi in die Lobby läuft, wirds still im Hotel Viru. Die Leute tuscheln, winken dem frischgebackenen Europameister zu, einige fragen nach einem Foto. Der 26-jährige Schaffhauser wirkt ein wenig überfordert mit der plötzlichen Aufmerksamkeit, nimmt sich aber Zeit für Bilder und kurze Gespräche. «Ich werde überflutet mit Nachrichten, Medienanfragen und Kommentaren. Das bin ich nicht gewohnt. Es ist fast zu viel.» Er lächelt schüchtern.

Blumen, Plüschtiere, Zeichnungen: Der Europameister aus Schaffhausen mit Fangschenken und Goldmedaille. Lukas Britschgi in seinem Hotelzimmer hoch über der estnischen Hauptstadt.

Blumen, Plüschtiere, Zeichnungen: Der Europameister aus Schaffhausen mit Fangschenken und Goldmedaille. Lukas Britschgi in seinem Hotelzimmer hoch über der estnischen Hauptstadt.

Nicolas Righetti

Lukas Britschgi ist das Wunder von Tallinn. Im Kurzprogramm landet er nur auf Platz 8, macht mehrere Fehler – ernüchternd. Eine Medaille scheint weit weg. Doch in der Kür wirkt er wie ausgewechselt, läuft befreit. «Vielleicht war der achte Platz mein Glück. Der ganze Druck fiel von mir ab, weil ich nichts zu verlieren hatte», sagt er nachdenklich. Angreifen liege ihm mehr als Verteidigen. Und wie!

Lukas Britschgi schafft den ganz grossen Coup, läuft die Kür seines Lebens und erreicht mit 184,19 Punkten eine neue persönliche Bestleistung. Er überrascht damit Estland, die Schweiz – und sich selbst.

Sensationelle Überraschung

Beim Frühstück mit Eiern, Hüttenkäse, Vollkornbrot und einem Gipfeli lässt er die Ereignisse des vergangenen Tages Revue passieren. «Ich realisiere es ehrlich gesagt immer noch nicht. Ich bin so müde – und gleichzeitig brodeln so viele Emotionen in mir.» Zeit, diesen Riesenerfolg zu begreifen, hatte er kaum. «Richtig werde ich es wohl erst in den nächsten Tagen realisieren. Oder auf dem Heimflug, wenn ich endlich ein paar Stunden für mich allein habe.»

Was isst eigentlich ein Europameister zum Zmorge? Im Hotel Viru gönnt sich Lukas Britschgi Eier, Hüttenkäse, Speck und Gipfeli.

Was isst eigentlich ein Europameister zum Zmorge? Im Hotel Viru gönnt sich Lukas Britschgi Eier, Hüttenkäse, Speck und Gipfeli.

Nicolas Righetti

Neben dem ganzen Rummel hat er den Sieg ausgiebig gefeiert. Es waren lange Tage und lange Nächte. Eine Pause liegt nicht drin – gleich gehts mit «Art on Ice» weiter, wo jetzt alle Augen auf ihn gerichtet sein werden. Er beisst ins Gipfeli, sagt: «Dass ich je Europameister werde? Das ist kein Traum, der in Erfüllung geht. Denn von so was habe ich noch gar nie gewagt zu träumen.» In der Hauptstadt Estlands waren seine ganze Familie, sein bester Freund Cedric und seine Freundin Mia mit dabei. Die Finnin musste kurz nach dem Erfolg abreisen – um daheim die Semesterprüfungen ihres Rechtsstudiums zu schreiben. Ihnen allen verdankt er einen grossen Teil seines Erfolgs.

«Wir sind wahnsinnig stolz auf unseren Sohn»: Gabi und Bruno Britschgi nehmen sich oft frei, um Lukas an Wettkämpfe zu begleiten.

«Wir sind wahnsinnig stolz auf unseren Sohn»: Gabi und Bruno Britschgi nehmen sich oft frei, um Lukas an Wettkämpfe zu begleiten.

Nicolas Righetti

Grosse Unterstützung

Mama Gabi Britschgi (55) war früher selber Eistänzerin. Sie nahm ihren vierjährigen Sohn jeweils mit, wenn sie Eistanz unterrichtete und keinen Babysitter fand. Dass er 22 Jahre später Europameister wird, damit hat sie nie gerechnet. Dem Bub gefiel das Eis zwar sofort – er ist aber ein Spätzünder und entschied sich erst nach der Fachmittelschule mit 19 Jahren, alles auf die Karte Eiskunstlauf zu setzen. Er wird fünfmal Schweizer Meister, gewinnt elf Medaillen an internationalen Wettkämpfen und holt 2023 EM-Bronze. Seine Mutter begleitet ihren ältesten Sohn zu fast jedem Wettkampf.

An diesem Abend in Tallinn erlebt sie die wohl nervenaufreibendsten Minuten ihres Lebens. Denn nach der Kür ihres Sohnes kommen noch sieben weitere Läufer, alles Top-Favoriten. Britschgi muss über eine Stunde auf seinen Sieg warten. Einer nach dem anderen reiht sich hinter seiner Punktzahl ein. Und plötzlich ist eine Medaille greifbar. Gabi Britschgi erzählt: «Ich habe im Stadion fast ein Herzchriesi bekommen. Auf einmal realisierte ich: Jesses Gott, jetzt gehts um Gold!»

Auch Lukas Britschgi beschreibt die Stunde auf der Kiss & Cry Couch als längste und schlimmste seines Lebens. «Das war noch anstrengender als die Kür selbst. Noch nie bin ich emotional so gequält worden.» Auch weil ihn ein Dilemma innerlich zerreisst: Mit vielen seiner Konkurrenten ist Britschgi gut befreundet, wünscht ihnen nur das Beste. Und denkt gleichzeitig an sich selbst. Sein bester Freund Cedric Schlatter (25) hingegen sagt lässig: «Also ich musste meine Freude nicht unterdrücken, wenn andere schlecht waren.» Die ganze Familie lacht.

Die Eltern können sich die Tränen nicht verkneifen

Beim Wiedersehen nach dem Sieg fliessen die Tränen. «Meinen Sohn endlich herzen zu dürfen, war sehr emotional – und wunderschön», sagt Mama Gabi, und Papa Bruno (58) nickt. Lukas beschreibt sich selbst als jemanden, der seine Gefühle nicht gern preisgibt. Aber da konnte er nicht cool bleiben. «Zu sehen, wie viel das meinen Eltern bedeutet – da blieben auch meine Augen nicht trocken.»

Emotional wurde es für ihn noch mal, als er sich seine Kür später im Hotelzimmer bei SRF anschaute. Wie die Kommentatoren über ihn reden, berührt ihn. Und die vielen Schweizer Flaggen im Publikum: «So laut war es, glaube ich, noch nie für mich in der Eishalle. Es ging alles so schnell. Mit der TV-Aufzeichnung kann ich das ein bisschen festhalten.» Er werde seine Kür wohl noch einige Male anschauen – Gänsehaut garantiert.

Viel Aufmerksamkeit

Ob Tallinn jetzt seine neue Lieblingsstadt ist? «Das nicht», sagt er und zwinkert, «aber es wird sicher immer ein spezieller Ort für mich sein.» Von einem Souvenirshop nimmt er sich prompt eine kleine estnische Flagge mit, die er auf seinen Rucksack pinnen möchte.

Touri-Sachen: Im Souvenirshop entscheidet sich Britschgi doch nicht für die Babuschka, sondern für eine estnische Flagge.

Touri-Sachen: Im Souvenirshop entscheidet sich Britschgi doch nicht für die Babuschka, sondern für eine estnische Flagge.

Nicolas Righetti

Selbst auf den Strassen von Tallinn wird der Europameister überall erkannt. Der BWL-Student aber bleibt bescheiden: «Das bräuchte ich nicht jeden Tag. Mit Marco Odermatt würde ich jetzt nicht gern tauschen wollen, bei ihm ist es sicher noch extremer!» Er lacht. «Spass beiseite: Ich geniesse das jetzt, solange ich kann. Es kann gut sein, dass es bei diesem einen Titel bleibt.» Er überlegt kurz. Und sagt dann: «Oder vielleicht kann ich erst jetzt richtig anfangen zu träumen.» Und ob er träumen darf! Er schaffte, woran selbst eine Legende scheiterte. Sein Idol Stéphane Lambiel (Lukas’ Kinderzimmer war voller Lambiel-Plakate) wurde Weltmeister, gewann aber «nur» dreimal EM-Silber. Lambiel war selbst als Trainer des Letten Deniss Vasiļjevs in Tallinn und gratuliert dem neuen Champion.

Kimmy Repond holt sich den dritten Platz im Kurzprogramm. Schaffhauser Lukas Britschgi ist Europameister.

Die Besten der Schweiz: Lukas mit EM-Gold und Kimmy Repond mit der Medaille für den dritten Platz im Kurzprogramm.

Nicolas Righetti

Grandiose Leistung

78 Jahre musste die Schweiz warten – Britschgi ist nach Hans Gerschwiler erst der zweite Schweizer, der endlich wieder Europameister wurde. «Ich bin so stolz. Und einfach überwältigt.» Für seine Goldmedaille will er jetzt einen Ehrenplatz schaffen – im Wohnzimmer seiner WG in Oberstdorf (D), da, wo er auch trainiert. «Hoffentlich haben meine zwei Mitbewohner nichts dagegen», sagt er und lacht. Dann fügt er hinzu: «Diese Medaille ist toll, aber sie ist nur ein Gegenstand. Was ich hier erleben durfte, werde ich für immer im Herzen tragen.» Nicht nur er: Lukas Britschgi wird mit diesem Titel in den Geschichtsbüchern verewigt werden. Und hat sich damit unsterblich gemacht.

Von Yara Vettiger vor 1 Stunde