Sofort wird klar, dass sich hier zwei Spitzensportlerinnen gegenüberstehen. «Ich gewinne», ruft Schützin Chiara Leone (26). «Nein, ich», antwortet ihre Team- und WG-Kollegin Franziska Stark (25) und schlägt den Tischtennisball übers Netz. Sechs-, siebenmal fliegt er hin und her, dann fällt er zu Boden. «Sieg!», jubelt Leone und reisst die Arme in die Luft.
Es ist eine Siegespose wie beim goldenen Auftritt am 2. August an den Olympischen Spielen in Paris. Wo sie ganz zuoberst aufs Siegerpodest hüpft. Die Aargauerin aus dem Fricktal triumphiert im Dreistellungskampf über 50 Meter. Von nun an darf sie sich Olympiasiegerin nennen. «Es fühlt sich surreal an – wie in einem Film», erzählt Leone drei Tage später der Schweizer Illustrierten in Magglingen BE. Neben ihr sitzt Franziska Stark auf einem Mäuerchen nahe der Liftstation. Die beiden Profischützinnen leben seit vier Jahren unten in einer WG in Biel BE und trainieren hier oben im nationalen Leistungszentrum. «Eine Medaille habe ich ihr zugetraut, aber dass es gleich der Olympiasieg wird? Damit konnte niemand rechnen», erzählt Stark mit strahlenden Augen. Um mit ihrer Kollegin zu feiern, bricht sie einen Wettkampf in der Schweiz ab und reist nach Frankreich. Zuvor haben die beiden telefoniert. «Mir liefen die Tränen hinunter, ich habe kaum einen Satz herausgebracht», erinnert sich Stark.
Auch ein Teil ihrer Familie unterstützt Chiara Leone vor Ort: Mutter Monika, Vater Nicola und ihre Brüder Francesco, Luca und Elia. Das speziellste Gespräch aber führt Chiara am Abend nach dem Wettkampf. «Ich habe meine Grossmutter in Italien angerufen. Meine Nonna wurde am nächsten Tag 90 Jahre alt. Ich habe ihr meine Medaille gezeigt. Ihre Freude zu sehen, war unglaublich schön.» Mit dem Olympiasieg machte sie ihrer italienischen Grossmutter das schönste Geburtstagsgeschenk überhaupt.
Geschafft! Sekunden nach dem letzten Schuss jubelt Chiara Leone über ihren Olympiasieg.
AFPWohin mit der Goldmedaille?
Die südländischen Wurzeln hat Leone von ihrem Vater. Dank ihm findet sie als Achtjährige auch zum Schiesssport. Eines Tages nimmt er sie mit in den Schiessstand. «Das hat mir sehr gefallen», erinnert sich Leone. Daneben spielt sie auch gern Fussball. «Auf dem Pausenplatz stand ich immer im Tor, weil ich keine Angst vor dem Ball hatte.» Trotz ihrer Leidenschaft ist sie nie Mitglied im Fussballverein. «In unserem Dorfklub gab es keine Frauenteams, und die Jungs wollten mich nicht unbedingt», sagt die aus Frick AG stammende Schützin.
Auf ihrem Weg an die Weltspitze trifft Leone 2021 eine bemerkenswerte Entscheidung. Sie bricht ihr Lebensmitteltechnologie-Studium ab, wird Schiessprofi. «Meine Familie stand hinter dem Entscheid. Es gab aber sicher auch die eine oder andere kritische Stimme.» Bis zuletzt sei sie gefragt worden, was sie neben dem Schiessen mache. «Nicht alle haben verstanden, dass das unser Beruf ist.» Mit dem Olympiasieg hat Leone bewiesen, dass ihr Weg der richtige ist. Immer wieder huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, wenn sie auf die Medaille in ihren Händen schaut. «Das fühlt sich gut an», sagt sie. Wo Leone sie aufhängen wird, steht noch nicht fest. Sicher ist nur: «In einen Tresor kommt sie nicht. Ich möchte sie jederzeit anschauen und bewundern können.»
Gute Freundinnen: Chiara Leone (l.) witzelt mit Franziska Stark in Magglingen BE. Die beiden leben zusammen in einer WG.
Geri BornKollegin Stark sitzt immer noch neben ihr und schaut fasziniert auf das glänzende Gold. Die Medaille anzufassen, traut sie sich nicht. «Die gehört Chiara. Sie hat sie sich so was von verdient.» Zur Belohnung hat ihr Stark nach der Rückkehr ein «Gourmet-Menü» gekocht, wie sie sagt: «Wunderbares Rührei mit Cherrytomaten.» Beide lachen laut. Viel mehr gab der Kühlschrank nicht her. «Typisch für unsere WG. Wir lassen uns das Essen oft kommen. Thailändisch mögen wir sehr. Mit dem Typen vom Lieferservice sind wir fast per Du», sagt Leone.
Was ein Olympiasieg auslöst, merkt sie in diesen Tagen: «Dieser Sieg stellt mein Leben auf den Kopf. Plötzlich erkennen mich die Leute am Bahnhof, wollen ein Foto oder ein Autogramm.» Während des Gesprächs mit der Schweizer Illustrierten wird sie von einer Gruppe Kinder angesprochen. Ihre neue Realität. Dazu kommen Medientermine und Anfragen von Sponsoren. Nicht alle Wünsche kann sie erfüllen. «Ich muss lernen, Nein zu sagen und klare Grenzen zu setzen. Aber es ist schon eine tolle Wertschätzung und sehr cool für den Schiesssport.»
Ein Handy voller Nachrichten: Auch Lehrer aus ihrer Schulzeit haben der Schützin zum Sieg gratuliert.
Geri BornAbschalten in Südamerika
Nach ihrer Rückkehr schläft sie drei Nächte in Biel und fährt dann noch einmal über die Grenze. Diesmal direkt nach Paris. Dort darf sie im olympischen Dorf übernachten. Da die Schiesswettbewerbe drei Autostunden ausserhalb der Hauptstadt stattfanden, bekamen sie von der olympischen Atmosphäre kaum etwas mit.
Auf der Zugfahrt nach Paris und zurück wird Chiara Leone nicht langweilig. «Nach dem Sieg habe ich über 300 Whatsapp-Nachrichten erhalten. Und auch auf Instagram sind es unzählige. Es ist der Wahnsinn, was da abgeht. Ich bin bisher noch gar nicht dazu gekommen, alle zu beantworten.»
Zeit zum Ausruhen gibt es dann im September. Leone reist für mehr als einen Monat nach Südamerika. «Ich lerne bereits Spanisch, damit ich mich verständigen kann.» Auch vor Ort will sie einen Sprachkurs besuchen. Gut möglich, dass sie auch dort einige Fotowünsche erfüllen muss.