Nach jeder Saison ist es da, dieses mentale Loch, in das Mathilde Gremaud (24) fällt. Doch inzwischen hat sich die Freiburgerin daran gewöhnt. Sie weiss, nach dem Winter brauchen Körper und Geist Erholung. Nach vier Monaten Highlife, Reisen, Wettkämpfen und Interviews fühlt sie sich müde. «Ich musste erst lernen, damit umzugehen», erzählt sie im Haus ihrer Eltern in La Roche FR. Hier lebt sie mit Papa Stéphane, der als Postbeamter arbeitet, Mama Chantal, Polizistin, und den beiden Schwestern Jeanne, die Medizin studiert, und Elsa, die eine Schneiderinnen-Schule besucht. Es ist ein kleines Paradies.
Schon ihr ganzes Leben hat Mathilde hier verbracht. Auf einem Grundstück etwas vom Dorf entfernt stehen ein Bauernhof, ein paar Einfamilienhäuser und ein kleiner Wohnblock. «Das Land gehörte meinen Grosseltern», erzählt sie. «Meine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins haben gebaut und leben ebenfalls hier.» Im Umkreis einiger hundert Quadratmeter findet man fast die ganze Familie. Gleich oberhalb des Dorfes liegt das Skigebiet La Berra, wo Klein Mathilde das Skifahren erlernt hat. «Aus reiner Freude», wie sie betont. «Wir haben immer selbst eine Schanze gebaut und unsere Tricks geübt.» Als Teenager sieht sie im Fernsehen, dass es in ihrem Lieblingssport auch Wettkämpfe gibt. «Von da an war für mich klar, dass ich das will.»
Zum Willen kommt das Können. In der abgelaufenen Saison holt sie gleich alle drei Kristallkugeln. Die grosse für den Gesamtweltcup und die beiden kleinen für die Disziplinen Big Air und Slopestyle. Sie gewinnt in ihrer Karriere bereits einen ganzen Satz Olympia- und WM-Medaillen sowie etliche Auszeichnungen bei X-Games. Nur die Kugeln haben noch gefehlt. Jetzt hat sie alles erreicht – mit gerade mal 24 Jahren. «Die Kugeln bedeuten mir sehr viel», meint sie. «Sie zeigen, dass ich über eine lange Zeit konstant gut gefahren bin.
Und nicht nur in einem einzelnen Rennen.» Genau das hat sie sich vor der Saison vorgenommen, einer Saison, in der es weder WM noch Olympia gibt: bei jedem Wettkampf gute Resultate liefern und dabei Spass haben. Es ist aufgegangen. Gremaud ist die erste Sportlerin, der es gelungen ist, alle Kugeln zu gewinnen. «Freeskiing ist ein junger Sport. Doch inzwischen hat er sich so professionalisiert, dass es möglich ist, die Limiten und Rekorde immer höher zu puschen.»
Nun stellt sie ihre Ski für ein paar Monate in den Keller. Damit sie sich erholen, die mentale Müdigkeit überwinden kann. Beim Sudoku oder Legobauen, mit ihrem Konditionstrainer in Lausanne, nach dessen Plänen sie hart arbeitet.
Studium an Fern-Uni
Zudem absolviert Mathilde Gremaud an einer Fern-Uni in Wien ein Masterstudium in Business-Administration. Ihr Ziel ist es, noch vor Olympia 2026 damit fertig zu sein. «Aber ich nehme mir so viel Zeit, wie ich brauche.» Die Matura erlangte sie an der Sportmittelschule Engelberg, die sie vier Jahre lang besuchte. So spricht sie praktisch akzentfrei Schweizerdeutsch.
«Auch wegen meiner Teamkolleginnen, die überwiegend aus der Deutschschweiz kommen», erklärt sie. Diese wird sie im Sommer wieder treffen, wenn das Team auf dem Airbag in Leysin VD neue Sprünge und Tricks übt. Auch wenn sie mit diesen Weltcupkugeln jetzt alles gewonnen hat: Sie hat Lust auf mehr. «Für mich geht es nicht nur um Medaillen», meint sie. «Es geht auch darum, dass ich einen neuen Sprung lerne oder einen schwierigen Trick gut stehe. Es geht um kleine Ziele für mich selbst.»
Noch keine Gedanken ans Aufhören
Die Sonne scheint in La Roche, der Löwenzahn blüht. Mathilde Gremaud schwingt sich auf ihr Bike. Hier findet sie ähnliche Bedingungen wie im Freeskiing. «Der Lifestyle ist sehr ähnlich», erzählt sie. Biker sind Einzelsportler, die im Team trainieren und in einem Rennen ihr ganzes Können abrufen müssen. «Ausserdem denke ich beim Biken nicht ans Skifahren. Anders als am Strand, wo ich viel zu viel nachdenken würde.»
Still sitzen liegt ihr generell nicht. Die 24-Jährige ist permanent in Bewegung. «Wenn ich nichts mache, werde ich unruhig», erklärt sie ihre Rastlosigkeit. In ihrem Sport ist sie ständig unterwegs. Da geniesst sie es jetzt, mal zu Hause zu sein, Freunde aus Kindertagen zu treffen. «Und mit ihnen über Themen zu reden, die mit dem Skifahren nichts zu tun haben. Was sie alles erleben, ist spannend für mich.»
Im Winter will sie dann wieder angreifen. Und sie freut sich auf Olympia 2026 in Mailand. Wo sie praktisch vor der Haustür performen kann. Dann ist auch ihre Familie dabei. Mit dieser Aussicht überwindet Mathilde Gremaud noch jedes mentale Tief.