Kerzengerade sitzt Julien Favreau (47) auf einem Stuhl und unterstreicht seine Worte mit eleganten, fliessenden Handbewegungen. Im Halbkreis um ihn stehen die Tänzerinnen und Tänzer des Béjart Ballet Lausanne in ihren Trainingskostümen und hören aufmerksam zu. Favreau beschreibt die nächste Szene. Ein delikates Stück sei es, über einen Mann, der die drei Lieben seines Lebens wiedersieht. Und immer wieder taucht plötzlich auch eine Unbekannte auf. Irgendwann realisiert er: Das ist Madame Tod, ihr Kuss wird sein Ende sein.
«Ich bekomme grad Hühnerhaut», unterbricht sich Favreau und spricht dann weiter über das Stück «Serait-ce la mort», das Maurice Béjart 1970 kreierte. Der Franzose Julien Favreau trat als 18-Jähriger der Compagnie bei und avancierte schnell zum Star und Publikumsliebling. Seit Juni 2024 ist er künstlerischer Direktor. Mit ihm kehrte Ruhe ein am Chemin de Presbytère. Nach Vorwürfen wegen Mobbing und sexueller Belästigung an der Ballettschule wurde diese geschlossen, Produktionsleiter und künstlerischer Direktor mussten ihre Posten räumen.
Geblieben ist das weltberühmte Ensemble, das Maurice Béjart (1927-2007) 1987 nach Lausanne brachte. Béjart gilt als Erneuerer des neoklassizistischen Balletts und war einer der bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts. «Ich betrachte mich als Verwalter seines Schaffens», sagt Julien Favre, «als Bewahrer seines Werks und Erbes. Ich bin jedoch kein Choreograf.» Und Ballett sei kein Museum. «Wir wollen uns entwickeln», sagt Favreau, «dazu lade ich bekanntere und unbekanntere Choreografen ein, mit uns zu arbeiten.» Aktuell besteht die Compagnie aus 17 Tänzerinnen und 20 Tänzern, Garçons et Filles genannt. Sie sind zwischen 22 und 52 Jahre alt und stammen aus 17 verschiedenen Nationen. Einige sind seit zwei Jahren dabei, andere seit zwanzig.
Maurice Béjart erkannte schnell das Talent des jugendlichen Tänzers Julien Favreau.
Nicolas RighettiJulien Favreau gilt als Pfeiler der Institution und ist bei der Truppe beliebt. Sie reagierte auf seine Ernennung mit anhaltendem Applaus – und niemand sei seither gegangen, betont Favreau und strahlt. Der Stil Béjart werde beibehalten, «aber in modern». Offiziell verabschiedete sich Favreau im Dezember 2024 von der Bühne – mit seiner Paraderolle als Freddie Mercury in «Ballet for Life».
Dennoch wird er vom 28. Februar bis 2. März in Basel auf der Bühne stehen, unter anderem als Geist des alten Königs in «Hamlet». Das Ballett schuf die preisgekrönte Choreografin Valentina Turcu zu Musik des britischen Komponisten Max Richter. Das Stück ist eines von dreien, die in Basel aufgeführt werden. Das zweite ist «Boléro», die berühmte Béjart-Choreo mit präzisen, fast geometrischen Bewegungen. Den Abschluss macht «Béjart et nous», eine Komposition von Favreau aus verschiedenen Balletten des Übervaters, unter anderem «Mozart-Tango», «Brel et Barbara», «Wien, Wien nur du allein» und «Symphonie No. 9».
In der Béjart-Ballet-Basis in Lausanne ist sein Geist omnipräsent. In den 50 Jahren seiner Karriere schuf Béjart gegen 300 Choreografien. «Darunter Meisterwerke», sagt Favreau, «und solche, von denen er selber sagte, man solle sie schnellstmöglich vergessen.» Béjart, das steht für Anmut und Leichtigkeit, für Leidenschaft und Kraft.
Julien Favreau erfüllt zwei Jobs: künstlerischer Direktor und Startänzer. Aber: «Ich bin kein Choreograf wie Maurice Béjart.»
Nicolas RighettiDrill am Morgen
Jeden Morgen um 11.30 Uhr tritt das Ensemble zum technischen Drill an. In einem der drei grossen Trainings-säle wird unter den Adleraugen von Altmeister Azari Plisetsky (87) jede Fussstellung, jede Nuance der Handbewegung trainiert, bis sie sitzt. In der Choreoprobe nachmittags gehts um Anmut und Mimik, um Bewegungs- und Schrittabfolgen. Nach Basel reist das Ballet Béjart nach Deutschland, Italien und Frankreich. «Wir tanzen regelmässig auch in kleineren Orte wie Terrassa in Spanien oder Düdingen im Kanton Fribourg», sagt Julien Favreau. «Das Publikum dort soll in unser Universum eintauchen können, ohne dass es weite Wege in Kauf nehmen muss.»
Favreau stammt selber von einem kleinen Ort, von der Atlantikinsel Île de Ré. Sie liegt 1,6 Seemeilen vor La Rochelle im Südwesten Frankreichs und hat im Winter 17 000 Einwohner. Im Sommer zehnmal so viele. In die Tanzschule musste der junge Favreau mit dem Boot. «Mein Vater hätte lieber einen Fussballer als Sohn gehabt. Aber jetzt bin ich die lokale Berühmtheit dort.»