Das Locarno Film Festival ist eine kulturelle und gesellschaftliche Institution – mit einer 75-jährigen Geschichte. Für den Kanton Tessin ist es die Veranstaltung mit der grössten internationalen Strahlkraft. Im August wird die Piazza Grande mit 8000 Plätzen jeweils zur schönsten und grössten Filmbühne Europas. Unter der Präsidentschaft von Marco Solari, 77, hat das Budget des zehntägigen Anlasses 15 Millionen Franken erreicht. Die Wertschöpfung für die Region beträgt ein Vielfaches.
Im Innenhof der «Trattoria» an der Via Marcacci herrscht mediterranes Ambiente. Zwischen den Hausdächern öffnet sich der Blick in den blauen Himmel. Am weiss gedeckten Stammtisch nimmt eine illustre Runde Platz: Neben Bundesrat Alain Berset, 49, Kulturminister und als oberster Gesundheitsdirektor die in den letzten zwei Jahren wohl meistfotografierte Persönlichkeit der Schweiz, Marco Solari und Luca Pedrotti, 56, Regionaldirektor UBS Ticino und früherer Fussballprofi mit meisterlicher Vergangenheit bei den Grasshoppers. Zudem die Schauspielerin, Journalistin und Unternehmerin Yaël Meier, 21, sowie die SI-Leserinnen Lilian Grünig-Louis, 49, Zahnärztin aus Schafis BE, und Doris Schmid, 62, Pflegefachfrau in der Psychiatrie, aus Thun.
Stefan Regez, Chef Publikumszeitschriften bei Ringier Axel Springer Schweiz, moderiert das Gespräch und wirft als Erstes die Frage auf, wie die Tessiner die regelmässige Invasion von Touristen aus der Deutschschweiz empfinden. Als Lust oder Frust? Berset unterbricht ihn lächelnd: «Ich habe auch ein paar Romands gesehen.»
Marco Solari: Es hat Zeiten gegeben, gerade in den Tälern um Locarno, da gab es Spannungen zwischen Touristen und Einheimischen. Dies hat sich aber radikal geändert. Die Beziehungen heute sind relaxt. Das zeigt mir auch, dass sich die Schweizer nähergekommen sind. Ich sagte früher immer: Wir sind glücklich, weil wir uns zu wenig kennen. Das ist vorbei. Mittlerweile kennen wir uns innerhalb der Schweiz gut. Auch die Romands haben den «Kontinent Tessin» entdeckt. Daher wünschte ich mir, dass die Ansagen in unseren Bahnhöfen nicht nur auf Italienisch und Deutsch gemacht werden – sondern auch auf Französisch. Die Westschweizer müssen spüren, dass sie willkommen sind. Doch ich glaube, sie fühlen sich schon jetzt wohl bei uns …
Alain Berset: Das kann ich vollauf bestätigen. Ich fühle mich sehr wohl hier und habe im Juli mit der Familie die Ferien im Tessin verbracht. In der Gegend Lugano. Seit Jahrzehnten komme ich auch ans Locarno Film Festival – früher nicht nur in offizieller Mission. Es ist eine grandiose Veranstaltung. Im Tessin bin ich immer beeindruckt von der Vielsprachigkeit der Menschen. Es gibt wohl keinen anderen Landesteil, in dem so viele Menschen so sprachgewandt sind wie im Tessin.
Solari: Für mich ist es enorm wichtig, dass wir auch die Romands mit offenen Armen empfangen. Aber das war ja auch ein Auftrag von Ihnen, Herr Bundesrat. Und wir nehmen immer alles ernst, was aus Bern kommt – nicht etwa wegen der grosszügigen Unterstützung des Festivals. Wir sind nicht käuflich (lacht).
Luca Pedrotti: Ich würde unseren Kanton als grosse Chance für die ganze Schweiz bezeichnen. Das sage ich als jemand, der auch in der Deutschschweiz gelebt hat. Das Tessin bietet eine tolle Lebensqualität – und einen guten Mix. Wir haben die Disziplin der Deutschschweizer, aber vielleicht etwas mehr Kreativität (schmunzelt).
Doris Schmid: Wir kommen sehr gern ins Tessin in die Ferien – hauptsächlich mit dem Camper. Für diese Art von Urlaub bietet der Kanton mehr als viele andere Orte. Momentan sind wir in Gordevio. Wir halten dort, wo es uns gefällt. Das ist der grosse Vorteil bei dieser Art von Ferien.
Pedrotti: An einem Tag wie heute sehen alle sofort, wie schön es hier ist. Bezüglich der touristischen Infrastruktur haben wir lange zu wenig gemacht. Aber das hat sich geändert. Wir haben gerade auch in der Pandemie bewiesen, dass man viel erreichen kann, wenn alle zusammenhalten: Politik, Kultur, Wirtschaft, Sport.
Lilian Grünig: Auch für uns ist das Tessin der Inbegriff von Ferien. Aber als Frau eines Seeländer Weinbauern kann ich im Sommer nur selten verreisen. Für den Stammtisch der Schweizer Illustrierten mache ich sehr gern eine Ausnahme.
Yaël Meier: Ich finde es immer sehr schön, ins Tessin zu kommen. Ich bin in Vitznau aufgewachsen, da gibt es auch Palmen. Daher erinnert mich das Tessin immer an Vitznau. Man könnte sagen, Vitznau sei das Locarno der Deutschschweiz (lacht).
Pedrotti: Es gibt aber nicht nur Ferien im Tessin. Wir arbeiten auch sehr hart hier. Alles andere sind Vorurteile und Klischees.
Solari: Wir müssen hier wohl sogar noch mehr beweisen und härter arbeiten als in anderen Gebieten der Schweiz. Wir haben hier quasi die Zürcher Methodik – aber mit einem Lächeln auf den Lippen.
Berset: Die Welt ist voller Vorurteile und Klischees – eines ist aber wahr: Mein Glas ist leer! (Lacht.) Diese vorgefassten Meinungen, die letztlich auf der Vielschichtigkeit des Landes beruhen, sagen aber auch sehr viel über unsere Identität als Schweizer aus. Die Vielfalt spiegelt unsere Identität, und die Klischees stossen die Debatte an.
Grünig: Das kann ich bestätigen. Ich lebe in Schafis am Bielersee – sozusagen mitten im Röstigraben.
Berset: Ich auch – allerdings im Freiburgischen – und arbeite seit Längerem in Bern. Deshalb glaube ich, beide Seiten zu verstehen: die Deutschschweiz und die lateinische Schweiz.
Der SI Stammtisch ist eine publizistische Initiative der Schweizer Illustrierten und Illustré in Zusammenarbeit mit DEAR Foundation-Solidarité Suisse und UBS Schweiz.
Reden wir übers Filmfestival. Welche Erlebnisse verbinden Sie damit?
Schmid: Ich war noch nie am Filmfestival; wir sind jeweils wegen der Musik nach Locarno gekommen – für das Moon&Stars-Festival. Wir sahen Green Day, Santana und Die Toten Hosen. Die Piazza bietet auch für die Musik eine grossartige Kulisse. Grundsätzlich liegen mir gute Spielfilme aber am Herzen. Im Ambulatorium, in dem ich 16 Jahre arbeitete, haben wir regelmässig Kinoabende organisiert.
Grünig: Ich kenne Herrn Solari aus den Medien natürlich bestens, aber am Festival war ich ebenfalls noch nie.
Berset: Ich kann Ihnen versichern: Die Atmosphäre auf der Piazza ist magisch.
Pedrotti: Die Erfahrung, hier einen Film zu sehen, ist einmalig. Das muss man als Filmfan einfach erlebt haben.
Solari: Herr Berset hat das Wort Identität erwähnt – das ist auch für unser Festival sehr wichtig. Wie eine Region oder eine Person hat auch ein Filmfestival eine Identität. Und es sind die Menschen, die das Locarno Film Festival prägen. Die Schauspieler und vor allem die künstlerischen Direktoren, die ihr Charisma, ihre Ideen, ihre Beziehungen einbringen. In 20 Jahren habe ich fünf künstlerische und drei operative Direktoren erlebt. Sie haben das Festival gross gemacht.
Pedrotti: … und der Sponsor (lacht)! UBS ist seit über 40 Jahren als Partnerin des Locarno Film Festival dabei. Diese Partnerschaft geht weiter als ein blosses Sponsoring: Wir leben die gleichen Werte, dieselbe Identität, die Kultur der Offenheit. Die Unterstützung der Kultur liegt uns als Bank sehr am Herzen.
Solari: Ein Partner wie die UBS ist ebenso wichtig wie die staatliche Unterstützung. Wir müssen unsere Leistung bringen und das Vertrauen rechtfertigen, das in uns gesetzt wird.
Berset: Es kommt sicher nicht drauf an, ob mir der Eröffnungsfilm gefällt oder nicht. Wichtig ist, dass die künstlerische Unabhängigkeit gewahrt bleibt.
Pedrotti: Die inhaltliche Einflussnahme war und ist auch für uns nie ein Thema. Wir könnten sogar mit einem bankenkritischen Film leben. Letztlich entscheidet stets das Publikum über den Erfolg eines Films. Deshalb sind wir besonders stolz, dass UBS in Locarno den Prix du Public UBS vergibt.
Solari: In dem Moment, in dem der Sponsor und die Politik versuchen würden, Einfluss zu nehmen, wäre für mich die rote Linie überschritten. Ich würde das nie akzeptieren. Das heisst aber nicht, dass es keine Kontrolle gibt. Die Verwaltung schaut uns genau auf die Finger. Und ich kann Ihnen versichern: Wir drehen jeden Franken um. Im Vergleich zu Filmfestivals im Ausland haben wir die Hälfte des Budgets.
Meier: In der Schweiz ist die Filmindustrie eine kleine Welt. Das schränkt auch den Spielraum ein. Es gibt Filme, die ohne Subventionen und Sponsoren nicht zu finanzieren wären. Auch das Locarno Film Festival ist für mich wie ein Unternehmen, ein Start-up. Es gibt Künstlern eine Plattform und eröffnet auch den Jungen den Zugang zur Kultur.
Solari: Danke, Frau Meier. Ihre aufrichtigen Worte freuen mich sehr. Diese Aussage spiegelt exakt das, wofür wir seit Jahrzehnten arbeiten. Mein Tag ist gerettet (lacht).
Berset: Und man darf nicht vergessen, dass mit dem sogenannten Basecamp am Locarno Film Festival wichtige Arbeit geleistet wird, um die Jungen ins Kino zurückzubringen. 200 junge kreative Leute können so am Festival teilnehmen. Als ich das erste Mal hierherkam, war ich von der Stimmung sofort fasziniert. Es ist ansteckend – wenn man dieses Wort zurzeit überhaupt noch verwenden darf (lacht).
Yaël Meier hat gesagt, dass die Jugend von heute weniger ins Kino geht und mehr Streaming-Dienste benutzt. Wie sieht dies bei Ihnen aus?
Berset: Unsere Familie hat ein Streaming-Abo – wenn ich das hier sagen darf. Meine Kinder schauen die Filme sogar auf dem Handy.
Grünig: Während der Pandemie nahm bei den Jungen die Nutzung des Smartphones überhand.
Pedrotti: Wir haben in dieser Phase gesehen, dass Technologie und Digitalisierung fast keine Grenzen kennen. Wichtig aber ist: Wir müssen diese Entwicklung dosieren und lenken.
Schmid: Bei einigen Jugendlichen stelle ich eine digitale Überdosis fest. Das macht mir Sorgen.
Meier: Diese Befürchtung teile ich nicht. Als das Radio kam, machten sich die Menschen auch Sorgen, dass man nun nur noch an diesen Geräten hängt. Es braucht Erfahrung mit den neuen Kommunikationsmitteln. Ich bin mit dem Smartphone aufgewachsen und denke, dass es ohne nicht mehr geht.
Solari: Die sozialen Netzwerke und die Digitalisierung sind auch für uns wichtig. Ein Festival, das diese Strömungen nicht aufnehmen kann, befindet sich in der Agonie. Ein Festival muss im ständigen Unruhezustand sein. Wenn es mit dem Stillstand zufrieden ist, hat es schon verloren.
Berset: Die sozialen Medien sind ein modernes Kommunikationsmittel – und brauchen Regeln für den Umgang miteinander. Ich sage meinen Kindern: Ihr solltet nur das posten, was ihr auch auf ein Blatt Papier schreiben und im Schulzimmer aufhängen würdet. Gleichzeitig erhält man als Politiker durch die sozialen Medien auch ein direktes Feedback. Es ist beeindruckend, wie sehr die Politik durch die Pandemie ins Zentrum des Interesses rückte.
Apropos Pandemie: Wie beurteilen Sie die Lage heute?
Berset: Die Situation ist gut, aber … Die Dynamik der Pandemie ist nach wie vor vorhanden, es gibt Unsicherheiten – auch wegen den Ferienrückkehrern und der Delta-Variante. Wir dürfen den Respekt nicht verlieren. Die Frage ist: Welche Überraschungen kommen noch? Ich denke nicht, dass es wie im vergangenen Herbst wird. Wir wissen mittlerweile mehr über das Virus. Und vor allem haben wir die Impfstoffe. Sie sind eine gute Chance, um aus dieser Situation herauszufinden.
Schmid: Ich habe keine Angst. Wir wissen, was wir tun können, um die Situation in den Griff zu bekommen. Und die Menschen, die nicht zuhören wollen, müssen Lehrgeld bezahlen.
Meier: Für junge Menschen war es schwierig, den Stillstand zu akzeptieren. Vor allem psychisch. Ich glaube, dass die Behörden in dieser Beziehung zu wenig gemacht haben. Deshalb hätte ich mich auch gern als Sprachrohr der Jungen in der Taskforce engagiert.
Grünig: Ich sehe das anders. Gerade in der Schweiz ging es uns immer gut – auch den Jungen.
Schmid: Ich erlebte die meisten Jungen als sehr positiv. Auch meine Nichte hat die Situation cooler genommen als viele Erwachsene.
Berset: Das wichtigste Instrument, die Pandemie zu bewältigen, ist die Impfung. Gemessen an unseren ursprünglichen Erwartungen, sind mehr Menschen geimpft als gedacht: Über 80 Prozent der über 70-Jährigen sind geimpft – und bereits über 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Ich bin überzeugt, dass es gut kommt.
Solari: Ich bin im Frühjahr 2020 schwer an Covid erkrankt, lag auf der Intensivstation und realisierte erst später, wie nah ich am Tod war. Das Wort Endlichkeit wurde für mich konkret. Deshalb sage ich mit Vehemenz: Haltet euch an die Regeln, spielt nicht mit dem Feuer, lasst euch impfen!
Im Rahmen des SI-Stammtisches beleuchtet der UBS-Wettbewerbsindikator jeden Kanton, den wir besuchen. Heute: das Tessin.
Für ein Verständnis der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Tessins ist ein Blick auf die Region Lugano unerlässlich. Sie sticht als Zugpferd des Kantons hervor. Sie bietet schnellen Zugang zu wichtiger städtischer Infrastruktur, einschliesslich eines Flughafens und der Universität. Dadurch werden dynamische Unternehmen angelockt, die Personen mit hohem Bildungsstand beschäftigen.Die Ausstrahlungskraft Luganos lässt mit der Entfernung nach. Dass die anderen Tessiner Regionen nicht mit Lugano mithalten können, ist einer der Gründe, warum die langfristigen Wachstumsaussichten für den Kanton im Vergleich zur übrigen Schweiz moderat ausfallen. Ein weiterer Grund ist der herausfordernde Arbeitsmarkt mit einer der landesweit höchsten Arbeitslosenquoten. Ähnlich gehts auch anderen Grenzkantonen, in denen lokale Erwerbspersonen mit dem angrenzenden Ausland um Arbeitsplätze wetteifern. Ferner schneidet das Tessin auch in Sachen Staatsfinanzen unterdurchschnittlich ab. Hier ist auch die Politik gefordert.