Zur Begrüssung gibts Küsschen. «Ich habe Tamara gern», sagt FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher, 55, beim Treffen im Time- Restaurant im Zürcher Hauptbahnhof. «Wir kämpfen ja auch häufig Seite an Seite», sagt SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, 32. «Heute, liebe Susanne, wirds wohl nicht so harmonisch.»
Sie beide sind Präsidentinnen Ihrer Frauensektion. Ist die Erhöhung des Rentenalters der Frauen ein Akt der Emanzipation?
Susanne Vincenz-Stauffacher: Ja! Ich sehe keinen Grund, weshalb ich weniger lang arbeiten soll als mein Mann. Auch meine emanzipierten Töchter – sie sind 24 und 26 – verstehen das nicht.
Tamara Funiciello: Für mich hat das nichts mit Emanzipation zu tun, wenn man das Leben von Menschen verschlechtert. Es ist nicht von Vorteil, wenn Frauen ein Jahr länger arbeiten – weder für die AHV noch für die Gesamtbevölkerung und auch nicht für die Männer. Dann gibt es mehr Leute auf dem Arbeitsmarkt, und für die braucht es Jobs.
Vincenz-Stauffacher (zeigt in die Bahnhofshalle): Die Frage ist, wie man die Weichen stellt. Für mich ist es ein Nachteil, ein Jahr weniger lang zu arbeiten. Ich hätte ja in diesem Jahr nochmals ein Einkommen, kann nochmals in die Pensionskasse einzahlen. Und – das gefällt mir so an dieser Vorlage – die neun Jahrgänge von Frauen der Übergangsgeneration erhalten je nach Einkommen grosszügige Rentenzuschläge bis zu 160 Franken im Monat. Sie sind künftig also besser gestellt als ohne Reform. Da erschliesst es sich mir einfach nicht, warum ihr sagt, die Reform finde auf dem Buckel der Frauen statt!
Funiciello: Du kannst schon heute ein Jahr länger arbeiten, wenn du willst. Du kannst auch früher gehen, du kannst dir das leisten – und statistisch gesehen wirst du das auch machen. Aber Leute mit tiefen Einkommen wie Putzfrauen, Bäuerinnen oder Kita-Mitarbeiterinnen können das nicht. Zudem profitieren gerade mal 40 000 Frauen
von den 160 Franken – bei einer halben Million, die betroffen sind. Das ist eine mickrige Zahl. Susanne, du bist so eine gute Verhandlerin …
Vincenz-Stauffacher: Danke für das Kompliment – ebenfalls.
Funiciello: … aber ich verstehe nicht, warum ihr bürgerlichen Frauen euch so einfach abspeisen lässt. Seit 40 Jahren steht in unserer Verfassung, man solle den Gleichstellungsartikel umsetzen. Die Behebung der Lohnungleichheit würde gleich viel Geld in die Kasse spülen wie die Erhöhung des Frauenrentenalters – das ist doch nicht fair. Anfang der 90er-Jahre haben wir es dank der Zusammenarbeit der SP und der FDP-Frauen geschafft, dass die 10. AHV-Reform angenommen wurde. Weil sie fair war! Das ist hier nicht der Fall. Ich bin überzeugt: Wir verkaufen uns zu billig!
Frau Vincenz-Stauffacher, können Sie nicht verstehen, dass die Linke das tiefere Frauenrentenalter als Pfand für die Lohngleichheit zurückbehalten will?
Ich bin eine Jasserin, sprich, ich spiele gern. Deshalb hab ich für dieses Pfand auch ein gewisses Verständnis. Allerdings haben wir keine Zeit
dafür.
Funiciello: Sicher haben wir die!
Vincenz-Stauffacher: Nein, und ich glaube auch nicht, dass das Ergebnis besser wird, im Gegenteil. Die demografische Schere wird weiter aufgehen.
Funiciello: Seit dem Tag der Einführung der AHV im Jahr 1948 droht ihr Bürgerlichen mit diesen Löchern. Im Jahr 2000 hiess es, 2010 klaffe in der AHV ein Loch von 10 Milliarden. Aber die AHV schrieb ein Plus. Im letzten Jahr machte sie 2,6 Milliarden Gewinn, im Jahr zuvor 1,9 Milliarden!
Vincenz-Stauffacher: Die Frage ist, warum? Zum einen wegen zweier guten Börsenjahre, zum anderen wegen der Steuer- und Zusatzfinanzierung der AHV, die zwei Milliarden reinspülte. Das ist nicht nachhaltig, sondern Pflästerlipolitik.
Funiciello: Wieso lässt man nicht einfach mehr Lohnprozente in die AHV fliessen statt in die berufliche Vorsorge, die seit Jahren im Sinkflug ist? Auch wenn es nur ein Prozent ist. Dann hätten wir das Problem schon längst gelöst.
Vincenz-Stauffacher: Das ist jetzt sehr salopp gesagt. Sprich mit Unternehmerinnen und Unternehmern: Wir können die Arbeit nicht noch mehr verteuern. Der Lohnbetrag, von dem die Lohnprozente in die AHV einbezahlt werden, ist ja nicht gedeckelt, das gibts nirgendwo auf der Welt. Wer eine Million Einkommen hat, zahlt auch entsprechend ein, obwohl er nicht annähernd so viel Rente erhält. Nun willst du diese Umverteilung noch mehr ausreizen.
Funiciello: Nein, nicht ausreizen, sondern stärken! Ob man jetzt ein Lohnprozent in die AHV oder ins BVG einzahlt – es ist das gleiche Prozent. 92 Prozent der Leute profitieren heute von der AHV, darum sind die Lohnprozente dort nachhaltiger angelegt. Das ist nicht salopp – das ist politischer Wille.
Vincenz-Stauffacher: Ich gebe dir recht, dass es beim BVG Handlungsbedarf gibt. Aber diesen lösen wir nicht mit einer Verschiebung von Pensionskassengeldern in die AHV.
Funiciello: Frauen haben jetzt schon einen Drittel weniger Rente als die Männer. Zudem gehen sie ja nicht mit 64 in Rente und geniessen la bella vita. Ein Grossteil schaut zu ihren Enkeln.
Vincenz-Stauffacher: Du sagt, nur Frauen können die Betreuung übernehmen? Wieso nicht ein Grossvater?
Funiciello: Frauen sind sowieso schon benachteiligt. Wenn wir diese Reform annehmen, fehlen ihnen nochmals 26 000 Franken mehr.
Vincenz-Stauffacher: Aber nicht in der AHV! Hier erhalten Männer und Frauen gleich hohe Renten. Es ist die erste Reform, in der nur Frauen Ausgleichsmassnahmen erhalten. Und mit der
Erhöhung der Mehrwertsteuer leisten alle ihren solidarischen Beitrag.
Funiciello: Die Mehrwertsteuer, das ist unser Brot, das teurer wird! In Zeiten der Teuerung und steigender Neben- und Krankenkassenkosten. Das ist für Leute mit tiefem Einkommen viel.
Vincenz-Stauffacher: Das ist mir bewusst. Aber dafür haben wir ein System mit Ergänzungs- und Überbrückungsleistungen.
«Wieso habt ihr ein Parteiprogramm, wenn ihr es nicht so meint?»
Tamara Funiciello
Frau Funiciello, sie sind 32. Keine Angst, keine Rente zu bekommen?
Da zitiere ich gern meinen Parteikollegen Paul Rechsteiner, heute 70. Er sagte mir: «Weisst du, Tamara, als ich in deinem Alter war, hiess es auch schon: Du wirst mal keine Rente mehr bekommen.» Ich habe überhaupt keine Angst, dass ich keine AHV mehr bekomme – eben weil sie so gut austariert ist. Zudem bin ich dagegen, dass Politiker Ängste schüren.
Vincenz-Stauffacher: Und was ist mit eurem Abstimmungsplakat? Da gaukelt ihr den Leuten vor, dass sie jetzt für das Rentenalter 67 abstimmen. Das ist nachweisbar falsch.
Funiciello: In eurem Parteiprogramm steht das Rentenalter 67. In jenem der SVP und der GLP ebenfalls. Wieso habt ihr ein Parteiprogramm, wenn ihr es nicht so meint?
Vincenz-Stauffacher: Da bin ich auch transparent. Mit der steigenden Lebenserwartung kann ich mir vorstellen, dass wir das Rentenalter erhöhen. Aber jetzt geht es um gleiches Rentenalter 65.
Funiciello: Die Frauen, für die ich mich einsetze, sind mein Mami und ihre Arbeitskolleginnen. Mein Mami hat 40 Jahre an der Coop-Kasse gearbeitet, zwei Kinder grossgezogen und kann
von ihrer Rente nicht leben. Jetzt sollen diese Frauen nochmals etwas hergeben? Wir haben so viele Vorlagen auf den Tisch gebracht, um die Lebenssituation dieser Frauen zu verbessern. Nicht mal für die Kita-Finanzierung konnten wir im bürgerlichen Parlament eine Mehrheit finden. Jetzt reichts.
Vincenz-Stauffacher: Das ist doch jetzt trötzeln: Weil ihr nicht dafür wart, mauern wir jetzt.
Funiciello: Nein, das ist verhandeln!
«Euer Bundesrat Alain Berset vertritt die Vorlage mit Verve»
Susanne Vincenz-Stauffacher
Vincenz-Stauffacher: Mit Alain Berset vertritt euer Bundesrat die Vorlage mit Verve.
Funiciello: Weil er muss. Begeisterung sieht anders aus.
Vincenz-Stauffacher: Man hat die verschiedenen Lebensrealitäten in der Vorlage aufgenommen. Ich bin Anwältin von Beruf. Man muss irgendwann die Gnade haben und sagen: Jetzt muss man den Sack zumachen.
Funiciello: Und ich bin Gewerkschafterin und überzeugt, dass man bei einem ungenügenden Verhandlungsergebnis zurück an den Tisch geht.