In der Wohnung von Michael Rauchenstein im angesagten Châtelain-Quartier in Brüssel trifft nordische Gemütlichkeit auf Industriedesign, und alles passt zusammen. «Ich habe sämtliche Möbel aus Zürich mitgebracht – zum Glück», sagt der 33-Jährige. Denn nur zwei Monate nachdem Rauchenstein Anfang 2020 für das Schweizer Fernsehen als EU-Korrespondent zu arbeiten angefangen hat, geht Belgien in den Lockdown. Privat treffen darf er sich nur noch mit maximal zwei Personen, nach draussen nur noch zum Einkaufen oder zum Sport. «Neben dem Job – als Journalist durfte ich zur Arbeit – war die Wohnung mein Rückzugsort.» Hier kocht er oft mit Freunden oder liest Bücher.
Das Handy klingelt. Rauchenstein entschuldigt sich, «die Kollegin von der ‹Tagesschau›». Am Morgen hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Pressekonferenz zu den Sanktionsmassnahmen gegen Russland gehalten. «Ich werde wohl heute in die Sendung geschaltet für eine Einschätzung.» Das Besondere: Nur wenige Tage später steht Rauchenstein auf der anderen Seite der Kamera in Zürich Leutschenbach, als Moderator der «Tagesschau».
Anfang August hat der studierte Politwissenschaftler die Stelle von Publikumsliebling Franz Fischlin, 59, übernommen, der das SRF-Flaggschiff nach 20 Jahren verlassen hat. «Natürlich hatte ich Respekt, in diese grosse Fussstapfen zu treten. Mein Vorteil ist, dass ich als Korrespondent das ‹Tagesschau›-Publikum bereits kenne – und umgekehrt.» Trotzdem sei es für die Zuschauerinnen und Zuschauer wohl etwas verwirrend, ihn in zwei Funktionen zu sehen. «Selbst meine Gspändli in Zürich wissen zum Teil nicht, dass ich noch in Brüssel lebe», sagt er und lacht ver- schmitzt. Auch für ihn sei die Doppelrolle eine Herausforderung. «Die Themen in Brüssel sind sehr komplex und brauchen viel Vorarbeit. Die Moderation der ‹Tagesschau› wiederum ist umfassender.»
Für Michi, wie ihn seine Freunde nennen, hat sich mit der neuen Aufgabe ein Traum erfüllt. Als Fünftklässler schaut er mit seinen Eltern «sportaktuell». Regula Späni führt durch die Sendung. «Ich sagte: Mami, Papi, das will ich auch mal machen.» Er schreibt seinem Idol – und erhält ein Mail zurück. Die TV-Frau lädt ihn ein, sie einen Tag fürs «Sportpanorama» zu begleiten. «Das war für mich das Grösste. Die Moderationskarten der Sendung habe ich aufbewahrt.» Späni wird seine Mentorin.
Sie rät ihm damals auch, beim Jugendformat «VideoGang» mitzumachen – Rauchensteins erster Job beim TV während des Gymis. «Wir hatten dort alle Freiheiten, durften von der Recherche übers Filmen bis zum Moderieren alles selber machen.» Nervös vor der Kamera sei er damals nie gewesen – und ist es auch heute nicht. «Ich stehe gern vor Leuten und erzähle, informiere.» Das war schon in der Schule so, als Michi seinen ersten Vortrag über einen Elefanten hielt. Statt wie die Mitschüler an Ort und Stelle zu stehen, läuft er durchs Zimmer, nimmt den Raum ein.
«Michael ist vor der Kamera sehr natürlich, nimmt sich selbst nicht wichtiger als seine Arbeit», sagt Regula Späni über ihren Schützling. Von Beginn an hätte sie seine Disziplin beeindruckt. Politisiert hat Rauchenstein sein Vater, der im Kanton Schwyz im Finanzdepartement gearbeitet hat. Seine Mutter führte zehn Jahre lang ein Kafi. «Von ihr habe ich die Gastfreundschaft geerbt.» Rauchensteins Vorbild bei der «Tagesschau»? «Katja Stauber! Die Art und Weise, wie sie die Welt in die Stube gebracht hat, fand ich grossartig.»
Seit Rauchenstein die «Tagesschau» moderiert, wird er noch öfter erkannt, etwa beim Wandern in der Zentralschweiz. «Solange mich die Leute nicht einfach nur anstarren, finde ich das total in Ordnung und unterhalte mich gern mit ihnen.» Über die Nachrichten – oder seinen Bart. «Ja, ich rasiere ihn selber», sagt er und lacht. Sein erster Chef beim Regionalsender Tele 1 sagte damals: «Ein News-Moderator mit Bart – das geht nicht.» Heute sei man da zum Glück lockerer.
Neben «Business Class» von Martin Suter («ich bin ein grosser Fan»), dem Comic «Asterix bei den Belgiern» («ein Geschenk der ehemaligen ‹Arena›- Kollegen») liegt das LGBTQ-Magazin «Mannschaft» in Rauchensteins Büchergestell. «Ich bin schwul», sagt er. Öffentlich zu politischen Themen wie der Ehe für alle nimmt er allerdings wegen seines Jobs keine Stellung.«Man wird mich auch nicht an der Pride in der ersten Reihe tanzen sehen – das passt nicht zu meiner Rolle als SRF- Moderator.» Dennoch sei er sich seiner Vorbildfunktion bewusst: «Gerade auf dem Land ist es schwierig, sich zu outen. Vielleicht hilft es dem einen oder anderen, dass ich als ‹Tagesschau›-Moderator offen zu meiner Homosexualität stehe.»
Rauchenstein ist Single. «Obwohl ich die Freiheiten als Brüssel-Korrespondent liebe – die Teamarbeit und der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen im Büro Zürich entsprechen mir fast mehr.» Ins EU-Viertel in Brüssel fährt Rauchenstein, der Bodypump mag und im Winter in Laax snowboarden geht, meist mit dem Velo. Unterwegs noch einen Kaffee beim hippen Barista, dann gehts ins Mediengebäude gleich neben der EU-Kommission, wo die EU-Flaggen im Wind wehen. «Ich merkte schnell: Die Schweiz ist in Brüssel unbedeutend.» Und seit Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen sei die Stimmung der Mitarbeiter der EU-Kommission gegenüber Schweizer Journalisten frostiger geworden.
Vermissen werde er die mediterrane Stimmung, die Brüssel trotz den häufigen Regenschauern versprüht. Ab Dezember übernimmt sein Kollege Andreas Reich den EU-Korrespondentenjob. Und Rauchenstein lebt voll und ganz seinen Moderatoren-Traum.