Viel zu lange hat Rachel Braunschweig, 52, auf Rollenangebote nur reagiert. Als sie 2017 im Kinohit «Die göttliche Ordnung» für ihre Verkörperung der Bäuerin Theresa mit dem Schweizer Filmpreis als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde, bekommt ihr Selbstbewusstsein einen ordentlichen Schub. «Seither gehe ich proaktiv auf Castingagenturen zu, wenn ich Rollen besonders reizvoll finde – eine spannende Erfahrung für mich», sagt Braunschweig. «Ich brauche es auch, zu wissen, dass ich so etwas schaffen kann.»
Dabei überzeugt die Zürcher Schauspielerin seit Jahren mit ihrer Leistung – und Wandelbarkeit. Ob mit würdevoller Ausstrahlung als Äbtissin Katharina von Zimmern in «Zwingli», komödiantischem Talent in «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» oder als taffe Staatsanwältin im Zürcher «Tatort» – Braunschweig ist die Frau für Frauen, «die nicht immer nur sympathisch rüberkommen, dafür aber aus dem Leben gegriffen sind». Sie sei in einem Alter, «in dem ich vielschichtigen und vor allem widersprüchlichen Charakteren ein Gesicht geben kann».
Jetzt hat sie ihre erste Hauptrolle. Im Beziehungsdrama «Spagat», das gerade im Kino läuft, spielt Rachel Braunschweig eine Lehrerin, die mit ihrem Ehemann und der Tochter ein ruhiges Landleben verbringt, zugleich aber eine Affäre mit dem Vater einer ihrer Schülerinnen hat. Vater und Tochter leben als Sans-Papiers, also ohne Aufenthaltsbewilligung, in der Schweiz. Für ihre Rolle war sie als beste Hauptdarstellerin für den diesjährigen Schweizer Filmpreis nominiert.
Sie sollte Lehrerin werden. Zumindest hätte das ihr Vater, ein «linker Banker», der 30 Jahre als UBS-Anlageberater arbeitete, gern gesehen. Mit ihrem älteren Bruder wuchs Braunschweig in Horgen ZH auf. Sie ist zwölf, als sich ihre Eltern trennen. Das Interesse für Kunst und Kultur wird bei ihr durch klassische Musik geweckt.
Als Zehnjährige besucht sie mit den Eltern im Zürcher Opernhaus das Musical «Fiddler on the Roof». «Ein prägendes Erlebnis», erinnert sie sich. Literatur spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in ihrem Leben. «Ich habe grosse Affinität zur Sprache, imitierte früh Dialekte, lernte Texte auswendig und trug sie gern vor.» Nach ihrem Germanistik- und Komparatistikstudium absolviert Braunschweig wegen der ablehnenden Haltung des Vaters heimlich die Aufnahmeprüfung an die Schauspielschule. «Heute ist er mächtig stolz auf mich, verfolgt sehr interessiert, was ich tue.»
Eher mässig interessiert zeigen sich Braunschweigs eigene Kinder, was die Arbeit ihrer Mutter angeht. «Sie sind da sehr pragmatisch und verlassen schon auch mal den Tisch, wenn mein Mann und ich über die Arbeit diskutieren. Ehemann Michael Hasenfuss, 54, ein Deutsch-Ire, ist ebenfalls Schauspieler, Dramaturg – und schreibt als Autor unter anderem Theaterstücke und Hörspiele. «Wir arbeiten beide sehr leidenschaftlich.» Ihr Sohn Ezra, 14, schnupperte zumindest schon Filmluft – als Statist, um sein Taschengeld aufzubessern. Tochter Yaira, 17, ist im Schultheater, beschied ihrer Mutter aber, sie solle sich deswegen nicht allzu grosse Hoffnungen machen. «Ich nahm sie wohl zu früh mit ins Theater.» Sie musste dort mitansehen, wie ihre Mutter, die als Motte auf der Bühne stand, von einem Staubsauger eingesaugt wurde. «Das war wohl traumatisch für sie», lacht Braunschweig.
Auch international startet sie durch. Gerade erst ist die Zürcherin von Dreharbeiten in Rom zurückgekehrt. Dort stand sie für die Öko-Thriller-Serie «The Swarm» nach dem Roman von Frank Schätzing vor der Kamera. «Meine erste internationale Produktion und zugleich das erste Mal, dass ich in englischer Sprache gedreht habe.» Nächsten Monat steht sie wieder als Staatsanwältin Anita Wegenast für den «Tatort» vor der Kamera. Es gibt Anfragen für eine Komödie und eine Serie in Deutschland. Und man darf gespannt sein, in was sich Rachel Braunschweig noch alles verwandeln kann.