Na, wie viele Songs von Taylor Swift können Sie laut mitsingen? Selbst wenn Sie jetzt denken «eigentlich keinen so richtig», garantiere ich, dass Sie es schon getan haben. «Shake it Off», «Anti-Hero», «Blank Space» – man hätte schon unter einem Stein leben müssen, um in letzter Zeit keine dieser Melodien im Ohr gehabt zu haben. Derzeit kommt niemand um die 34-jährige Musikerin herum. Swift hat alle Rekorde gebrochen. Es müssen neue für sie erfunden werden. Sie setzt Massstäbe, die Wirtschaftsstrukturen beeinflussen. Sie kann im wahrsten Sinn des Wortes die Erde beben lassen – 70'000 stampfende Fans lösten vergangenen Juli in Seattle ein Erdbeben der Stärke 2,3 auf der Richterskala aus.
Der Vollständigkeit halber dennoch ein paar Fakten: Ihre ausverkaufte «Eras Tour» mit 151 Konzerten auf fünf Kontinenten wird geschätzt mehr als 5 Milliarden Dollar umsetzen. Für die enttäuschten «Swifties» – so nennen sich ihre Fans –, die keine Karten ergattern können, bringt Swift ihre Tour einfach als Konzertfilm in die Kinos. Bereits am Startwochenende spielt der dreistündige Streifen 92 Millionen Dollar ein – und dies ohne Kooperation mit einem grossen Filmstudio. Ihr zwölftes Album «Speak Now (Taylor’s Version)» macht sie zur Frau mit den meisten Alben an der Spitze der amerikanischen Charts, vor Barbra Streisand! «Forbes» schätzt Swifts Nettovermögen auf 1,1 Milliarden Dollar. Es gibt an mehr als zehn amerikanischen Universitäten Kurse, die sich mit Swift beschäftigen – unter anderem in Harvard. Neu widmet sich auch ein Anglistik-Seminar an der Uni Basel ihren Texten. Und seit Taylor Swift medienwirksam den beliebten Footballer Travis Kelce datet, hat sie das Unmögliche geschafft. Sie hat eins der Heiligtümer der USA noch beliebter gemacht: American Football. Die NFL zählt Millionen neuer Fans, seit die Romanze vor ein paar Monaten bekannt wird.
Der Wandel zum Pop-Phänomen
Aber wie wird aus einem blonden Mädchen mit Gitarre, das auf einer Weihnachtsbaumfarm in Pennsylvania aufwächst, ein derartiges Phänomen? 2008, damals ist sie 19 Jahre alt, sorgt sie mit ihren romantischen Countrysongs das erste Mal für Furore. In «Love Story» besingt sie Romeo und Julia auf dem Schulhof und hängt kurz darauf als Poster in so manchem Mädchenzimmer in ganz Amerika. Swift ist süss, unschuldig, keine «Pop-Bitch», sondern ein Vorbild – auch Eltern mögen sie. Politisch äussert sie sich nie. Das hat sie wohl von den Musikerinnen der Dixie Chicks gelernt, deren Karriere 2003 jäh zu Ende geht, nachdem sie sich verbal gegen den damaligen Präsidenten George Bush gewandt haben.
Taylor Swift ist die harmlose Pop-Prinzessin, die sich mit Problemchen weisser junger Mädchen herumschlägt. So weit, so unspektakulär. Sie schreibt Songs, seit sie zwölf ist, spielt diverse Instrumente, singt schön, wenn auch nicht auf dem Level grosser Soulsängerinnen. Was Taylor Swift aber im Gegensatz zu anderen Zeitgenossinnen, die schnell weg vom Fenster sind, schon immer beherrscht: gutes Storytelling. Sie schafft es, die banalsten Situationen in clevere Songtexte zu packen, erzählt Geschichten, wo andere nur Klischees bedienen. Ihre Songs sind melodisch nicht besonders aufregend, aber rhythmisch und was die Phrasierungen angeht interessant. Und sie haben immer einen Plot, wie eine Folge der TV-Überfliegerserie «Friends». Und wer bitte mag «Friends» nicht?
Swift ist übrigens selbst bekennender Fan. Ihre Texte sind clever genug, um nicht banal zu sein, aber banal genug, um niemanden auszuschliessen. Mit ihren Songs hilft sie vielen, ihr Leben zu reflektieren, ohne dabei zu tief gehen zu müssen. Ihre Texte sind ein Blick in ihr Tagebuch, das gleichzeitig das Tagebuch einer jeden jungen Frau sein könnte. Absurd, dass sich so viele von ihr gespiegelt fühlen, wo sie doch ein Megastar mit unendlichen Privilegien ist. Aber ihr Talent liegt darin, den Fans das Gefühl zu geben, sie sei ganz genau so wie sie. Und irgendwie ist sie das. Wenn sie etwa im Interview mit dem «Time Magazine» Ende vergangenen Jahres von ihrer Familie spricht, tut sie das berührend authentisch: «Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder haben einige der besten Ideen zu meiner Karriere beigetragen. Ich scherze immer, dass wir ein kleines Familienunternehmen sind.»
Erfolg trotz tiefem Fall
Im Gegensatz zu vielen anderen Countrysängerinnen schafft Taylor Swift die Transformation zum Popstar, ohne dass sich ihre Fanbase verraten fühlt. Das verbindende Element? Wieder das Storytelling. Um ein globaler Popstar zu werden, reicht das amerikanische Countrygenre nicht aus. Dafür braucht es gewiefte Produzenten, Glitzer und Beats. Ausserdem die diebische Freude ihrer Fans, wenn sie das Liebesleben der Künstlerin untereinander diskutieren können. Ein Taylor-Swift-Album zu hören, ist wie Blättern durch eine Klatschzeitschrift. Welche Romanze besingt sie wohl gerade? War das Jake Gyllenhaal, bei dem ihr Schal noch immer in der Schublade liegen soll («All Too Well»)? Richtet sich «Dear John» wirklich an Womanizer John Meyer? Es ist beachtlich, wie sehr Swifts Liebesleben die Klatschpresse dominiert. Die Sängerin bittet um Privatsphäre, doch dafür bieten ihre Songs zu viel Raum für Spekulationen.
Doch plötzlich wird der stetige Aufstieg des Popstars gestoppt: Bereits 2009 gerät sie mit Kanye West aneinander. Dieser stürmt an den MTV Video Music Awards bei der Preisübergabe für das beste Video die Bühne mit dem Vorwurf, sie hätte den Preis nicht verdient. Swift steht in ihrem Glitzerkleid wie angewurzelt da – und sagt nichts. Es ist dieser Moment, der ihrem Image einen Riss versetzt. 2016 dann der Tiefpunkt: Kanye West veröffentlicht den Song «Famous», in dem er über potenziellen Sex mit Swift rappt. Angeblich habe sie dem Text zugestimmt, was sie verneint. Wests damalige Ehefrau Kim Kardashian publiziert darauf ein heimlich mitgeschnittenes Telefonat. «Es war ein Komplott. Sie haben ein Telefongespräch illegal aufgezeichnet und bearbeitet, um mich vor allen wie eine Lügnerin dastehen zu lassen», sagt Swift heute. «Das hat mich psychisch an einen Ort gebracht, an dem ich noch nie zuvor war. Ich bin in ein fremdes Land gezogen, habe dort mein Haus nicht verlassen. Ich hatte Angst zu telefonieren. Ich stiess die meisten Menschen von mir, weil ich niemandem mehr vertraute. Ich bin damals wirklich sehr tief gefallen.»
Das Internet ist nun mal schneller empört, als jemand «Faktencheck» buchstabieren kann. Swift zieht sich fast zwei Jahre komplett aus der Öffentlichkeit zurück, was später in der Netflix-Dokumentation «Miss Americana» thematisiert wird. Sie fasst die Zeit so zusammen: «Man hatte mir eine Krone gegeben und sie mir dann wieder weggenommen.»
Ihr Einfluss ist enorm, auch politisch
Aber Swift wäre nicht Swift, wenn sie ihr Leben nicht in Songs verarbeiten würde: 2017 veröffentlicht sie «Reputation», das Album, in dem sie sich vermeintlich von der Abhängigkeit der öffentlichen Wahrnehmung verabschiedet. Den Hassern zeigt sie musikalisch den Stinkefinger. Die neue Taylor weiss, wer sie ist, wofür sie steht, und muss es nicht mehr allen recht machen. Genau damit macht sie es allen recht. Sie ist die Spiesserin, die cool geworden ist. Und das findet die ganze Welt gut. In ihrer Heimat USA mag man nichts mehr als Stehaufmännchen. Popstars werden hochgejubelt und dann zerstört. Die aber, die es schaffen zurückzukommen, werden unsterblich. Das weiss Swift: «Ich bin in den letzten 20 Jahren so oft an der Fahnenstange der öffentlichen Meinung hoch- und wieder runtergezogen worden. Nichts ist von Dauer. Deswegen bin ich sehr dankbar für jede Sekunde, in der ich meinen Beruf auf diesem Niveau ausüben darf.»
Taylor Swift steht auf: gegen Sexismus, gegen Rassismus, sie ruft ihre Fans dazu auf, zu wählen. Sie entfernt ihre Musik bei den grossen Streamingdiensten, weil diese Songwriterinnen nicht angemessen entlöhnen. Sie kämpft gegen Musikmanager, die sie ausnutzen. Sie verklagt die Social-Media-Plattform X, weil dort mit künstlicher Intelligenz produzierte Nacktfotos von ihr verbreitet werden. Weil die Plattform die Bilder nicht in den Griff bekommt, blockiert sie vorübergehend die gesamte Suche nach ihrer Person. Swift bedient sich ihrer Macht. «Miss Harmonie» ist jetzt «Badass», eine Businessfrau, die sich nimmt, was ihr zusteht. Das passt zum aktuellen Verständnis von Feminismus. Ihr Einfluss macht selbst den Konservativen in den USA Angst: Zuletzt versucht der TV-Sender Fox News die Verschwörungstheorie zu verbreiten, Swift habe sich mit dem Pentagon verbündet, um die bevorstehenden Wahlen zu manipulieren.
Weitere Faktoren für Swifts Erfolg: ihr Ehrgeiz und ihr Hang zur Perfektion. Über die Vorbereitung der «Eras Tour» sagt sie: «Jeden Tag lief ich auf dem Laufband und sang die gesamte Setliste laut mit. Tempo schnell für die schnellen Lieder und joggen für die langsamen. Danach habe ich drei Monate lang Tanztraining gemacht, weil die Choreografie in meinen Knochen sitzen sollte.» Nach Dutzenden von Auftritten braucht auch sie eine Pause: «Weil meine Füsse vom Tanzen in High Heels knirschen und ich kaum noch sprechen kann.»
Taylor Swift bringt Menschen zusammen, wie es lange niemand geschafft hat: In Konzertstadien, in Kinos – im Nachgang einer Pandemie sehnen wir uns nach Gemeinschaftserlebnissen. Sie ist die Good News nach der Lektüre lauter deprimierender Nachrichten. Dabei ist sie echt, wenn auch immer kontrolliert, nie so labil wie etwa eine Britney Spears. Was sie von anderen unterscheidet, ist ihre Verletzlichkeit. Auch Beyoncé war im vergangenen Jahr mit ihrer «Renaissance World Tour» äusserst erfolgreich. Sie hat sich aber für die Rolle der Königin entschieden: Queen Bey. Lady Gaga ist die Lady. Taylor Swift ist einfach nur «Taytay». Eine von uns. Oder?