Auf dem Campingplatz Bern-Eymatt, wo weisse Wohnmobile dicht an dicht stehen, fällt der Transporter von Jürg Wittwer auf: ein dunkler Hüne mit Allradantrieb, der locker Schlamm und Schnee trotzt. Der Wagen eines Abenteurers – auf einem Stück Rasen mit Parzellennumero.
24 Plätze in der Schweiz
Das hat einen guten Grund: Wittwer braucht seinen Camper ausnahmsweise nicht für einen Roadtrip, sondern als Büro. Der 55-Jährige ist Generaldirektor des Touring Club Schweiz (TCS): ein Verein mit 1,5 Millionen Mitgliedern, bekannt für seinen Pannendienst, seine Reise- und Rechtsschutzversicherung und eben – seine 24 Campingplätze, verstreut zwischen Genf und Graubünden.
Seit geraumer Zeit erlebt die Schweiz einen regelrechten Campingboom. Letztes Jahr verbuchte der TCS erstmals über eine Million Logiernächte – 30 Prozent mehr als im Vorjahr und sogar 65 Prozent mehr als 2019. Und längst kommen nicht mehr nur Familien und Rentner. Auch immer mehr Städter und Gutbetuchte suchen zwischen Gaskocher, Luftmatratze und Anti-Brumm die grosse Freiheit.
In der Wüste und im Busch
Als Generaldirektor führt Wittwer in seinem Büro in Genf ein Leben weit weg von der Campingidylle. Darum hat er sich entschieden, in sieben Tagen sechs Campingplätze abzufahren, um Mitarbeitenden und Gästen den Puls zu fühlen. Der Camping Eymatt ist seine zweitletzte Station. «Ich bin echt auf den Geschmack gekommen», sagt Wittwer und fläzt sich in einen Klappsessel. Dazu muss man wissen: Der TCS-Chef hat zwar schon oft in der Wüste und im Busch übernachtet, aber noch kaum je auf einem Schweizer Campingplatz. «Privatsphäre ist mir nämlich wichtig.»
Keine Frage: An der Privatsphäre kratzt das Campingleben brutal. Man hört, wie die Frühaufsteher klappernd ihr Zmorge zubereiten und die Nachteulen ihren Rausch ausschnarchen. «Dafür kommt man sehr schnell ins Gespräch, das gefällt mir sehr», sagt Wittwer. Wenn man weiss, wie er aufgewachsen ist, erstaunt das nicht.
Seine Eltern, beide aus der Deutschschweiz, arbeiteten in der Entwicklungshilfe. Als er zehn Jahre alt ist, zieht die Familie ins westafrikanische Burkina Faso, Jürg besucht eine französische Schule. Er lernt, dass man nie einfach nur «Hallo» sagt und weiterläuft, wenn man Bekannte auf der Strasse trifft. «In Afrika bleiben wir stehen, fragen, wies geht – auch wenn wir im Stress sind.» Als er mit 18 in die Schweiz zurückkehrt, denkt er zuerst, niemand möge ihn – alle sind so kurz angebunden. «Der Kulturschock war gross.»
Trend: Glamping
Aber Wittwer ist keiner, der sich an Gewohntes klammert. Er gibt sich in das neue Leben rein: besucht das Gymnasium, studiert Wirtschaft in St. Gallen und macht Karriere im Reiseversicherungsgeschäft («was nie mein Lebensideal war»). 2016 wird er CEO beim TCS, Chef von 1800 Mitarbeitenden. «Auch hier geht es um Business, aber anders als in der Finanzbranche wird der Gewinn in unseren Verein reinvestiert», sagt er, «das entspricht mir mehr.» Investiert wird nicht zuletzt auch in die Campingplätze, vor allem ins Glamping – eine Wortschöpfung aus Camping und Glamour. Wetterfeste Unterkünfte mit einem gewissen Komfort wie Bett und Küche werden immer beliebter.
Auch Jürg Wittwer hat in seinem Camper eine eigene Toilette mit Dusche. Wobei er das nicht Komfort nennt, sondern Unabhängigkeit. Er liebt dieses Gefühl – und wünscht sich das auch für seine Kinder Naomi, 24, und Joel, 22. «Eltern müssen dafür sorgen, dass Kinder möglichst schnell ohne sie leben können», ist er überzeugt. Sohn Joel wohnt und studiert in Bern.
Er sieht seinen Vater «wegen des vielen Lernens» nicht so oft. Umso schöner, wenn es spontan klappt, wie jetzt, wo Jürg Wittwer in Bern auf der Durchreise ist. Eine Dose Ravioli, zwei Flaschen Bier – ob auch der junge Mann auf den Campinggeschmack kommt?