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Roger Federer tritt zurück

Tennis ist seine grosse Liebe

«Der grösste Tennisspieler der Geschichte hat einen wesentlichen Teil meines Lebens geprägt.» Der Journalist Christian Bürge gibt seine ganz persönlichen Erinnerungen preis. Und ordnet Federer als Sportler und Menschen anhand von sieben Charaktermerkmalen ein.

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Roger Federer

Roger Federer küsst den Pokal nach dem Sieg in Wimbledon im Juli 2017.

Getty Images
Emotion

Ein Bündel von Zeitungen liegt in diesem Karton, der vor mir auf dem Boden steht. Den ich über Jahre im Schrank aufbewahrt habe. Zuoberst der englische «Daily Telegraph» vom 7. Juli 2008 mit der Schlagzeile «The greatest final ever». An jenem Montag kaufte ich in London eine ganze Reihe von Zeitungen. Weil ich etwas aufbewahren wollte. Nicht Buchstaben und Meinungen. Sondern ein Gefühl. Denn am Tag zuvor war ich da. Auf der Tribüne des Centre Court von Wimbledon. Beim besten Tennisspiel, das die Welt je gesehen hatte. Eigentlich kein Spiel, sondern ein opulentes Gemälde, an dem man sich nicht sattsehen kann. Das irgendwo beginnt und sich ausbreitet. Eines, das kein Ende nehmen sollte. Das 6:4, 6:4, 6:7, 6:7, 9:7 von Rafael Nadal über Roger Federer. Von 2003 bis 2008 hatte Federer auf Rasen unglaubliche 65 Partien in Serie gewonnen. Bis er in einem Spiel einen Bezwinger fand, für das es kaum Worte gab. Ich will zurückreisen, will mich noch einmal hineinlegen in diese Erinnerung. Also lese ich. «Als wir da sassen, perplex von der Willenskraft beider, der Qualität ihrer Schläge und des absoluten sportlichen Theaters, das wir verfolgten, war ein übermächtiger Gedanke da. Dass wir für immer dem Allmächtigen danken müssen, dass wir da waren.» Das schrieb der «Telegraph». Und auch Simon Barnes von der «Times», meist unterwegs wie ein sprachlicher Florettfechter, rang für einmal um Fassung. «Es ist selten, dass zwei grosse Spieler zur selben Zeit auf diesem unglaublichen Level spielen. Es ist angebracht, die Superlative wegzupacken und einfach Danke zu sagen für den verdammten Sport. Für diese verrückten Spiele, die wir sehen, die derart aussergewöhnliche Dinge produzieren und solch aussergewöhnliche Menschen.» Abends um viertel nach Neun sank Rafael Nadal im Blitzlichtgewitter zu Boden. Es war schon düster. Der Wahnsinn nahm ein Ende. Die Nacht hatte Federers Träume geschluckt. Über Stunden hatte ich während des Spiels nervös auf der Tribüne gesessen, war zwischendurch zurück ins nahe Pressezentrum gehetzt, um ein paar Sätze zu schreiben. Es war nicht auszuhalten. Und die Deadline rückte näher. Manchmal schloss ich die Augen und legte die Stirn auf die Tischplatte. Um nicht hinsehen zu müssen. An meiner Stuhllehne hing ein edler Anzug. Ich war im Fall von Federers Triumph zum Champions Dinner eingeladen. Am Tag zuvor nahm der Schneider in der exquisiten Wimbledon-Garderobe Mass. Doch am Ende fiel alles in sich zusammen. Eine knappe Stunde nach Spielschluss kam Federer in den grossen Interviewsaal. Er liess sich auf den Stuhl fallen, lehnte sich weit zurück, was er sonst nie tat. Seine Miene war wie versteinert. Ich erinnere mich, wie er mich eine Sekunde lang fixierte. Mein Puls wurde schneller. Er war tief erschüttert. Und ich las in seinem Blick etwas wie Zorn. Auf der grössten Bühne in Wimbledon gewann er seinen ersten Titel bei den Junioren gewonnen, 2003 seinen ersten Grand-Slam-Pokal. Und hier fand er nach fünf Jahren des Erfolgs seinen Bezwinger. Seine Augen waren gerötet. Er hatte in der Kabine geweint. «Ich bin am Boden zerstört», sagte er. «Es ist bei weitem die härteste Niederlage meiner Karriere. Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden. Die Niederlage in Paris war gar nichts im Vergleich. Das ist ein Desaster.» 1998 – zehn Jahre zuvor – hatte ich meinen ersten Interview-Termin mit Federer, dem Teenager. Bei einem Satellite-Turnier in der Tennishalle von Diepoldsau im Rheintal. Ich wusste damals noch nicht, dass er über 20 Jahre meines beruflichen Lebens prägen würde. Zwischen 2005 und 2009 war ich mit Federer 12 bis 18 Wochen pro Jahr unterwegs. Ich sah ihn rund um die Welt gewinnen, verlieren, als ungestümen Jugendlichen und liebevollen Familienvater, während Siegesserien und in der Krise. Federer gewann während seiner Karriere rund fünfmal öfter, als er verlor. Aber nichts blieb mir so in Erinnerung wie der Wimbledon-Final 2008, seine schlimmste Niederlage. Ich frage mich oft, warum das so ist. Ich glaube nicht, weil es ganz einfach das beste Spiel der Geschichte war. Ich glaube, ich realisierte dort erst so richtig, was ihm der Sport bedeutete: Die ganze Welt.

Roger Federer

Auftritt in Doha im März 2021: Federer nach dem Sieg gegen den Briten Dan Evans.

Getty Images
Perfektionismus

Federer ist in gewissen Dingen kompromisslos. Andere würden es gnadenlos nennen. Vielleicht ist es am Ende einfach professionell. Jedenfalls ist es einem Ziel untergeordnet: dem Sieg. 6. April 2001, kurz nach 23 Uhr nachts. Federer hatte in der Daviscup- Partie der Schweiz gegen Frankreich in knapp drei Stunden gegen Nicolas Escudé verloren. Es war ein fehlerhafter und lustloser Auftritt, den er absolvierte. Ganz im Gegensatz zu Marc Rosset, der zuvor in einem 6-stündigen Epos gegen Arnaud Clément zwar ebenfalls verlor, das Publikum aber auf eine elektrisierende und unvergessliche Reise mitnahm. Die 5000 Menschen stampften, schrien, schwitzten fast wie die Spieler. Am Ende tropfte die Feuchtigkeit von der Hallendecke. Rosset blieb nichts schuldig. Federer aber sabotierte sich selbst. Während der Seitenwechsel schaute er am Teamcaptain Jakob Hlasek vorbei in die Leere des Raums. Es war längst kein Geheimnis mehr, dass er sich nicht mit dem ehemaligen Topspieler verstand. Doch jetzt wirkte er wechselweise zornig und angewidert von der Situation und der Präsenz Hlaseks. Nachdem seine Niederlage besiegelt war, ging er mit versteinerter Miene Richtung Pressekonferenz. Dort sagte er: «Es geht nicht mehr mit ihm!» Tage später lieferte er eine persönliche Erklärung nach: «Auf Grund zwischenmenschlicher Probleme ist für mich eine weitere Zusammenarbeit mit dem jetzigen Captain nicht mehr möglich.» Der Verband konnte gar nicht anders, als die Bedingung seiner grossen Zukunftshoffnung zu erfüllen und Hlasek fallen zu lassen. Knapp drei Monate später wurde Federer auf einen Schlag weltberühmt, als er die Wimbledon-Ära von Pete Sampras in den Achtelfinals beendete. Die Episode in Neuenburg war eine Machtdemonstration ausserhalb des Platzes. Der in der Zukunft weitere folgten. Im Juli 2005 war es Marc Rosset, der auf Drängen der Spieler – und entscheidenderweise auf Drängen Federers – als Daviscup-Captain gehen musste. Rossets undiszipliniertes Verhalten in der Partie im März gegen Holland – unter anderem kam er zu spät zu Trainings – tolerierte Federer nicht. «Ich habe ihm den Entscheid erklärt. Er bleibt eine grosse Persönlichkeit im Schweizer Tennis», sagte Federer damals über den Mann, der ihn als Teenager unter seine Flügel nahm, gegen den er in Marseille seinen ersten Final spielte, verlor und danach bitterlich weinte. Mit 23 Jahren, in einem Alter, in dem andere nur Leichtigkeit – und vielleicht auch Leichtsinn –empfinden und leben, gab Federer den Tarif durch wie der CEO eines Grossunternehmens. Federer ist ehrlich, gradlinig, zuvorkommend und oft herzlich. Er liess seinen Emotionen auf dem Platz freien Lauf – gerade nach grossen Siegen und Niederlagen. Aber für Sentimentalitäten hatte es in seinem Universum keinen Platz, wenn etwas zwischen ihm und dem Erfolg stand. Dann beseitigte er das Hindernis. Das ging Hlasek und Rosset so. Das ging Coach Peter Lundgren so, der mit ihm den Wimbledonsieg 2003 feierte, Federers ersten grossen Triumph überhaupt. Ein halbes Jahr später war der Schwede wegen interner Differenzen nicht mehr erwünscht. Nur Coach Severin Lüthi behielt Federer als Freund und wichtigen Vertrauten auch in Tiefs an der Seite. Grosse Sportikonen wie Leo Messi, Cristiano Ronaldo, Tiger Woods oder Michael Schuhmacher haben oft etwas gemein: Den Perfektionismus. Sie dulden in ihrem Universum keine Schwachstellen. Als im Frühling 2020 die Netflix-Serie «The Last Dance» über den Basketball-Superstar Michael Jordan und seine Chicago Bulls online geht, das wahrscheinlich beste Zeitdokument über alle Sportarten hinweg, schwirrt auch Federer sofort im Kopf herum. Jordan war eines von Federers grossen Jugendidolen. Und die Parallelen sind augenscheinlich. Beide waren besessene Arbeiter, welche nichts dem Zufall überliessen. Der Sieg stand über allem. Im Falle Jordans – so offenbart «The Last Dance» - war das Bedürfnis zu gewinnen so zwanghaft, dass er zum gnadenlosen Mobber wurde, wenn Mitspieler seine Erwartungen nicht erfüllten. Federer – das ist der Vorteil des Einzelsportlers gegenüber dem Teamsportler – musste nur sich selbst, die Trainer und seine Entourage disziplinieren. Federer war kein Mobber. Auch wenn er sich beim unrühmlichen Beispiel mit Hlasek keine Glanznoten verdiente. Aber sein Wesen ist dem von Jordan sehr ähnlich. Und wenn wir bei Jordan sind: Das Publikum hat sowohl bei Jordan, als auch bei Federer eine falsche Wahrnehmung, was den Hauptgrund für ihren Erfolg angeht. In die Wiege gelegt bekamen sie den Körper und damit optimale Proportionen, die sich positiv auf den Sport auswirken. Aber Federers tänzerisch leichte Schritte, sein Timing und Ballgefühl haben wie Jordans Fähigkeit, länger als alle und wider alle Gravitationsgesetze im Raum zu schweben, wenig mit dem vielbesagten Talent zu tun. Ihr Erfolg ist zurückzuführen auf eines: hunderttausendfache Wiederholungen eines Ablaufs, die im Bewegungsgedächtnis gespeichert werden. Und gerade weil beide ihre Tage, Wochen und Monate so pedantisch auf Details ausrichteten, waren sie so überragend. Und forderten dies auch von den Menschen, die sie umgaben. Als ich Federer im August 2012 in einer Loge des Stadions in Cincinnati interviewte, wurde mir wieder bewusst, was ihm diese Verpflichtung, dieser Arbeitsethos bedeutete. «Die jungen Sportler müssen bereit sein, ihr Nest zu verlassen, zu reisen, Opfer zu bringen, nicht nur bequem daheim zu sitzen», sagte er, der als 14-Jähriger oft weinte, wenn er sich von den Eltern ins Leistungszentrum verabschiedete. «Ich wäre auch am liebsten zu Hause geblieben. Aber ich wusste, dass man einen Preis bezahlen muss.»

Roger Federer

Federer an der Laver Cup Press Conference im März 2021 in Genf.

Getty Images for The Laver Cup
Kontrolle

Es war Anfang Mai 2011 in Madrid. Ich sass im Spielerrestaurant der Caja Magica, der Zauberkiste, und schaute aus dem Fenster. Im Bauch dieses futuristischen Stadions bedienten sich die Stars am Buffet. Roger Federer setzte sich mit einem Teller voller Dessertvariationen an den Tisch. «Willst du auch eins? Die sind super», sagte er. Nach einigen gemeinsamen Jahren auf der Tour kannten wir uns gut. Er war immer freundlich und zuvorkommend. Es zeichnete ihn aus, dass er sich seines Superstar-Status voll bewusst war, aber jeden Menschen gleichwertig und gleichwürdig behandelte. Ein- bis zweimal pro Saison gab er den Journalisten, die ihn um die Welt begleiteten, ein längeres Interview. Zwischen 30 und 60 Minuten. Daneben trafen wir uns täglich im Interviewraum zur Pressekonferenz. Vor allem ab Mai bis Ende Juni war die Kadenz hoch. Monte Carlo, Madrid, Rom, Paris, Halle, Wimbledon. Federer redete an diesem Nachmittag in Madrid über seinen bevorstehenden 30. Geburtstag, über seine Konfliktfähigkeit. Dass er keinem Streit mit seiner Frau Mirka aus dem Weg geht. «Ich diskutiere alles aus. Miteinander nicht zu reden ist so etwas wie der Anfang vom Ende. Man hat sich ja gerne. Manchmal ist es ein Missverständnis, war nicht so gemeint. Ich habe keine Angst vor Problemen. Jeder hat seine Macken. Aber ich bin sehr einfach im Umgang. Mit mir kann man gut Zeit verbringen. Es braucht viel, bis ich ausflippe. Das kann mal passieren, ist aber sehr selten.» Wir redeten auch über seine Kinder. Dass er sich wünschen würde, sie könnten alleine zur Schule gehen. «Wie wir das auch erlebt haben. Sie sollen normal aufwachsen. Das ist schwierig. Aber wir sind bodenständig, haben eine gute Familie, gute Freunde.» Immer teilte er Geschichten aus dem Leben. Auch aus seiner Familie. Er erzählte lebhafte Anekdoten. Wie seine Kinder jeweils die Hotelzimmer dekorierten, die Möbel verschoben, wie er die Zwillinge schon verwechselte. Kleine, unterhaltsame Episoden. Er gab etwas von sich preis und zog gleichzeitig eine klare Linie. Erstaunlich ist, wie er die Kontrolle über seine Aussenansicht während all den Jahren behielt. Das Rezept war offensichtlich: 1. Jeder um ihn kannte die Regeln und Grenzen. 2. Alle Fäden liefen zurück zu ihm. Die Trainer, der Manager Tony Godsick, der Fitnesscoach Pierre Paganini – sie redeten nur in Absprache mit Federer. Die Eltern Lynette und Robert hatten ein feines Gespür, was sie erzählen konnten und Mirka gab in Absprache mit Federer nach 2005 gar keine Interviews mehr und machte so den cleversten und für sie befreiendsten Zug überhaupt. In einem Gespräch am Zürichsee im Jahr 2009 sagte Federer: «Mir ist es egal, wenn mich Medien wegen meiner Vorhand, Rückhand oder Attitüde kritisieren. Ausser es geht ins Private rein. Das will ich respektiert haben.» Und weiter: «Wenn man wie ich nicht offensiv ist, dann ist es vielleicht auch nicht ganz so interessant, über mich zu tratschen. Dem kann man ausweichen.» Während vergleichbare Superstars seiner Generation wie Tiger Woods, Cristiano Ronaldo und Leo Messi mit Sex- und Steuerskandalen Schlagzeilen machten und sogar Michael Jordan mit seiner Spielsucht in einer Phase überbordete, bot Federer nicht die geringste Angriffsfläche. Kein Flirt, keine falsche Bemerkung zu Gegnern, keine heikle politische Aussage. Und die gesamte Entourage blieb ebenso makellos. Wahrscheinlich hat das auch mit seinem Wesen zu tun. Federer war schon in Jugendjahren nie dem Exzess zugetan. Wenn er einmal über den Durst trank, war es schon aussergewöhnlich. Jedenfalls hat er seinen Namen, der über die Jahre zur teuren Marke wurde, in über 20 Jahren immer perfekt geschützt. Für jemanden, der bei fast jedem Schritt beobachtet wurde, eine gewaltige Leistung.

 

 

Härte

Es war der fünfte Satz des Wimbledon-Finals von 2009. Roger Federer gegen Andy Roddick. Die Natur war stärker als der Wille, nichts zu verpassen. Die Treppe hinunter Richtung Toilette, direkt unter der Tribüne. Als ich um die Ecke joggte, rempelte ich um ein Haar Boris Becker über den Haufen, der nach fast vier Stunden Tennis in der Kommentatorenkabine auch menschliche Bedürfnisse empfand. Becker, Federers einstiges Idol, schaute auf dem Pissoir schliesslich zwei Meter neben mir an die Wand mit den weissen Kacheln. Er, der in grossen Spielen auf diesem Rasen immer über sich hinauswuchs, in schwierigen Momenten zulegte. Auch Federer perfektionierte das. Das realisierte an diesem Tag Andy Roddick zum wiederholten Mal. Gäbe es Federer nicht, hätte der Amerikaner fast sicher drei Wimbledon-Titel gewonnen. Auf der Tribüne fieberte ich mit. Mit jeder Minute auch mehr mit Roddick, diesem witzigen und charmanten Menschen. Aber Federer gab keinen Zentimeter Preis. Selten schenkte er einen Punkt her. In Finals noch seltener. Am Ende freute ich mich für Federer, der ein Jahr nach seiner Niederlage gegen Nadal den 15. Grand-Slam-Titel holte und damit Pete Sampras übertraf. Und ich litt sehr mit Roddick. Wieder einmal zeigte sich: Kaum einer hatte seine Gedanken in entscheidenden Momenten so im Griff. Zwischen 2006 und 2007 gewann er 41 Spiele in Folge, zwischen 2005 und 2006 56 Mal hintereinander auf Hartplatz, zwischen 2003 und 2008 65 Spiele in Folge auf Rasen. Und so elegant seine Rückhand anzusehen war, so wunderbar seine Vorhandpeitsche, so tänzerisch seine Bewegungen auf dem Feld: Er war in vielen Spielen über weite Strecken nicht besser. Er machte auf der Ziellinie den Unterschied. In Grand-Slam-Finals gewann er 70 Prozent aller Tie-Breaks. Mehr als alle anderen. Ich denke heute noch, dass es nicht falsch ist, Federer als furiosen Künstler in Erinnerung zu behalten. Aber in seiner Karriere war er vor allem eines: ein mentaler Fels und in entscheidenden Momenten ein absoluter Killer.

 

Roger Federer und Rafael Nadal

Federer mit Freund und Konkurrent Rafael Nadal in 2017 in Schanghai.

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Gespür

Im Oktober 2016 war Federer auf Mallorca zu Besuch, um als Stargast Rafael Nadals Akademie zu eröffnen. Beide Spieler mussten ihre Saison frühzeitig beenden. Federer wegen Rücken- und Knieproblemen bereits im Sommer, Nadal wegen Handgelenkproblemen im Oktober. Kaum jemand hatte die beiden auf der Rechnung, um in absehbarer Zeit Grosses zu leisten. Federer war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre lang ohne einen Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier, Nadal zweieinhalb Jahre. Ich fragte mich: Was geben ihre Körper noch her? Ich traute keinem von beiden innerhalb der nächsten sechs Monate viel zu. Aber Federer wirkte im Gespräch zuversichtlich, dass er bereits im Januar in Australien zu den Titelanwärtern gehören würde. Und er sollte – einmal mehr – recht behalten. Am 29. Januar standen nicht nur beide im Final, Federer spielt dabei auch grossartiges, druckvolles Tennis und gewann seinen 18. Grand-Slam-Titel. Er hatte immer ein feines Gespür für seine Fähigkeiten und seine Langlebigkeit. Schon nach dem Wimbledon-Halbfinal 2008 gegen Marat Safin sagte er: «Ich habe die Chance, dieses Turnier die nächsten fünf bis zehn Jahre zu gewinnen. Mein Spiel ist gemacht für Gras.» Federer gewann nicht nur Wimbledon 2017 und bestätigte seine Voraussage neun Jahre zuvor, sondern auch die Australian Open 2018. Und auch 2019 stand er in Wimbledon noch einmal im Final. Von der «New York Times» über die englische «Times» bis zur französischen Sportzeitung «L’Equipe» hatten sich Experten über Federers Limiten reihenweise vertan. Mal hiess es 2008, er sei auf dem absteigenden Ast, ein andermal, er würde Nadal nie mehr in einem Grand-Slam-Final bezwingen können. Ich weiss noch, wie ich Federer im Januar 2009 zutraute, noch lange zu spielen und 17 oder 18 Grand-Slams zu gewinnen. «Aber 20 schafft keiner», hatte ich gesagt. Und mich wie alle getäuscht. Federer spürte als 27-jähriger nicht nur, dass sein Körper noch viele Jahre Spitzenleistungen hergab, er wusste auch, dass er ein Rezept gegen Nadal finden würde. Federer war lernfähig, stellte seine Spielweise um und belohnte sich im Januar 2017 gegen Nadal mit einem der grössten Comebacks des Sports.

 

Roger Federer und Novak Djokovic

Kampf der Giganten: Novak Djokovic nach dem Sieg gegen Federer im Wimbledon-Finale 2019.

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Anziehungskraft

Die Frau sass auf der Tribüne schräg unter mir, trug edle weisse Stoffhandschuhe, und ich weiss noch, wie ich sie bei jedem Spielunterbruch fasziniert beobachtete. Wie sie die Hände rieb, an den Fingerspitzen ihrer Handschuhe zupfte, sie dann wieder zurückzog, und bei verlorenen Punkten die Hände vors Gesicht schlug. Goodness! Für eine feine englische Lady – dafür hielt ich sie angesichts ihrer Kleidung und der horrenden Ticketpreise für einen Wimbledon-Final – war sie völlig ausser sich. Sie war eine von tausenden Federer-Fans an diesem 9. Juli 2006 im Südwesten Londons. Es war der erste von drei aufeinanderfolgenden Wimbledon-Finals mit der Affiche Federer gegen Nadal und ging in vier Sätzen an den Schweizer. Ich fragte mich, ob je ein internationaler Spieler bei einem Schweizer Publikum so eine magnetische Anziehungskraft hatte oder haben würde. Wie hoch die Emotionen gingen, obwohl kein Brite im Final stand, war erstaunlich. Federer war überall auf der Welt ein Publikumsliebling. Sie liebten ihn leidenschaftlich in Paris, wo sich immer wieder französische Gegner über den überwältigenden Support für Federer beklagten, waren aber auch in Schanghai, New York, Madrid, Rom, Hamburg, oder Melbourne in nahezu jedem Spiel auf seiner Seite. Womit das zu tun hatte? Natürlich auch mit seinem Erfolg. Aber den hatten auch andere. Ich glaube, es war eine Kombination aus seiner kolossalen spielerischen Kunst, seiner Mehrsprachigkeit und weiteren wichtigen Eigenschaften, die ihn aussergewöhnlich machten. Nicht nur sein Anstand, das Bewusstsein für die Etikette und seine Demut. Federer war weltgewandt, kultiviert, fand überall punktgenaue Gesten und Worte. Federer war auch etwas eitel, aber er wusste, wo die Grenze lag. Nie wirkte er aufgeblasen, selbstherrlich oder dünkelhaft. Was ihm bei Experten und Spielern hoch angerechnet wurde: In all den Jahren beendete er alle Spiele, die er auch begann. Er ist der einzige Spitzenspieler seiner Ära, der nie ein Spiel aufgab. Ein Sieger mit Pflichtgefühl, Chic und Manieren. Er verkörperte Eigenschaften, die seltener wurden. Kein Wunder, hatte er bei gesetzteren Damen seine vielleicht grösste Anhängerschaft. Aber beliebt war bei allen. Und in allen Ländern. Denn Federer wurde irgendwann nicht mehr als Schweizer wahrgenommen. Er war über den Nationen. Der beste Botschafter, den dieser Sport je hatte. Eine Ikone für Millionen von Menschen. Ihre grosse Leidenschaft.

 

Roger Federer Familie

Die Familie Federer: Ehefrau Mirka und Mutter Lynette sowie die Zwillinge Myla Rose, Charlene Riva, Lenny und Leo. Vater Robert fehlt auf dem Bild.

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Liebe

Ein paar Tage vor dem Final der Australian Open 2009 führte ich ein längeres Gespräch mit dem ehemaligen schwedischen Grand-Slam-Sieger Mats Wilander. Wir redeten über Federers Probleme mit dem Spiel von Rafael Nadal und wie dieses Rätsel zu lösen wäre. Er schwärmte auch von Federers Inspiration und der schieren Freude am Spiel. «Wenn der Punkt schon vorüber ist, nimmt er oft den Ball und spielt ihn im hohen Bogen dem Ballkind auf der anderen Seite zu. Und dies so genau, dass sich dieses oft gar nicht bewegen muss», sagte Wilander. «Ich hab ihn gefragt, warum er das mache. Er sagte mir, weil er es einfach liebe, einen Tennisball fliegen zu sehen.» Zwei Tage später verlor Federer den Final gegen Nadal in fünf Sätzen. Bei der Siegerehrung brachte er zuerst kein Wort über die Lippen. Einer schrie: «We love you Roger!» Dann sagte Federer: “Maybe I try later. God, it’s killing me.” Schliesslich heulte er hemmungslos. Auch mir liefen die Tränen herunter. Nadal legte den Arm um Federers Hals, drückte seine Stirn an Federers Schläfe. 2008 in Wimbledon, 2009 in Melbourne – immer, wenn es nach Niederlagen aus ihm herausbrach, war mir klar, wieviel er für dieses Spiel gab, wie er es liebte. Er blieb dem Tennis nicht der Rekorde wegen, schon gar nicht des Geldes wegen so lange treu. Für ihn war es vor allem: ein Lebenselixier. Ich weiss noch, wie wir – eine Gruppe befreundeter Journalisten - am Abend des 6. Juli 2008 im gemieteten Haus in Wimbledon um den Tisch sassen. Ein paar Stunden nach dem grössten Spiel der Geschichte und Federers härtester Niederlage. Wir hatten indisches Essen bestellt, unsere Gläser mit Rotwein gefüllt. Aber kaum jemand sagte etwas. Alle waren wie mit Blei beschwert. Roger war Teil unseres Lebens. Wir waren zwar Journalisten, aber auch nur Menschen, die mitfieberten und mitlitten. Gerade nach Niederlagen, wenn er verwundbar wirkte, überkam uns das Gefühl, dass der Zauber endlich war. Niemand konnte ahnen, dass Federer noch eine lange Reise von 13 Jahren bevorstand. Natürlich kann ich, können wir alle, künftig seine besten Spiele aus der Konserve anschauen. Aber die Bilder können nicht alles wiedergeben. Nichts wird mir ersetzen, was ich dank ihm erlebte. Wenn ein Spiel intensiv wird und eine Masse von Menschen sich zu einem grossen Organismus mit einem einzigen Pulsschlag und einem gemeinsamen Atem vereint. Die Schreie nach dem Punkt, dann das Gemurmel, schliesslich das Flüstern. Dann die absolute Stille. Bis zum Geräusch des Balles. Wie Roger war, kann ich nur bis zu einem bestimmten Punkt beschreiben. Viel von dem Athleten und dem Menschen war nur da draussen auf dem Platz wahrnehmbar. Dort, wo zwischen zwei Spielern etwas entsteht, wo wir der Unberechenbarkeit des Sports ausgeliefert sind, die uns ohnmächtig macht. Und süchtig. Für die lange Reise und diesen Rausch, den ich dank Roger erlebte, bin ich für immer dankbar.

 

 

Von Christian Bürge am 15. September 2022 - 15:36 Uhr