«Alain, glaubst du wirklich, dass wir auf diesem überdimensionierten Sofa sitzen sollten, weil der Fotograf der Schweizer Illustrierten das so wünscht?» Ruth Dreifuss sagt es mit dem Schalk in den Augen und dem verschmitzten Schmunzeln, das sie schon als Bundesrätin ausgezeichnet hat. «Du entscheidest», antwortet Kulturminister Alain Berset, «ob das Sujet für dich stimmt.» Und schiebt nach: «Die Chaiselongue ist von der Künstlerin Pipilotti Rist!» – «Ja», sagt Dreifuss, «es ist Pipilottis Hommage an Emilie Kempin-Spyri, die als erste Frau in der Schweiz das Studium zur Dr. iur. gemacht hat und dennoch als Anwältin vor Gericht nicht auftreten durfte.»
Denise Tonella, die Kuratorin der neuen Ausstellung «Frauen.Rechte» im Landesmuseum Zürich, kommt hinzu und sagt: «Wir laden explizit alle Besucherinnen und Besucher ein, aufs Sofa zu steigen – als Ermutigung und Sprungbrett für noch viel mehr Gleichberechtigung im Land.» «Also, komm, Alain, dann sollten auch wir auf das Sofa sitzen», sagt Ruth Dreifuss, und die beiden klettern auf die Chaiselongue.
Mitten in der Pandemie ist es ein seltsam entspannter Moment. An diesem Dienstag öffnet das Landesmuseum erstmals wieder seine Tore. Hier Alain Berset, 48, der wie kein anderer Politiker im Land seit einem Jahr im Corona-Brennpunkt steht. Neben ihm Ruth Dreifuss, 81, die unter historischen Umständen am 10. März 1993 Bundesrätin wurde und demselben Departement wie heute Alain Berset vorstand.
Dreifuss dreht sich um: «Oh, da drüben sehe ich ja meine Bluse und zwei Sonnenbroschen!» Nun steht sie vor ihrem Foto: «Es ist schon eigenartig, wenn man sich selber plötzlich im Museum sieht.» – «Aber deine Wahl war wirklich historisch», sagt Alain Berset. «Als das Frauenstimmrecht 1971 eingeführt wurde, war ich im Gegensatz zu dir, Ruth, noch nicht auf der Welt. Aber die Nicht-Wahl von Christiane Brunner und die darauffolgenden Frauendemonstrationen, die dich in den Bundesrat trugen, haben mich tief geprägt und politisiert.» Und schon erzählt Dreifuss die Geschichte der Brosche: «Die kleinere habe ich von Christiane Brunner erhalten. Mit der Sonne wollten wir zeigen, dass die Frauen nie mehr im Schatten stehen sollen.»
«Ich stand damals unter einem grossen Erwartungsdruck»
Die Nicht-Wahl von Brunner in den Bundesrat hat 1993 die Schweiz extrem polarisiert und bewegt. Statt Brunner wird von der bürgerlichen Mehrheit ein Mann gewählt, Francis Matthey, der allerdings sein Amt unter diesen Umständen nicht annimmt. Eine Woche lang – bis zur Wahl von Ruth Dreifuss – ist Bundesbern wie gelähmt, die Frauen aber im ganzen Land sind in Aufruhr.
«Ich stand damals unter einem grossen Erwartungsdruck, und einige hatten extrem Mühe mit meiner Wahl. Aber persönlich wurde ich nie angegriffen.» Anders als heute, wo Corona das Volk spaltet und Wutbürger die Bundesräte verwünschen: «Als Gesundheitsministerin hatte ich mit Aids und dem Rinderwahnsinn zwar auch meine Pandemien, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was Alain seit einem Jahr durchmacht.»
Alain Berset geniesst die Stille im Museum. Allmählich entspannt er sich, atmet befreit durch. Bern scheint plötzlich fern. «Ja, es tut mir wirklich unglaublich gut, jetzt hier im Museum zu sein und die Tagespolitik aussen vor zu lassen.» Auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Der Skiterrassenstreit, der absurde Vorwurf, er sei der Diktator der Schweiz, und das Seilziehen im Parlament um die Wiedereröffnung der Restaurants haben Berset mehr zugesetzt, als er dachte. «Es ist wirklich hart. Ich wünsche mir wie alle im Land ein Ende dieser Pandemie.»
Was ihm guttut, ist die Kollegialität im Bundesrat. Ist sie sogar durch die Krise gewachsen? «Ja, das kann man so sehen. Auf alle Fälle ist es schön zu erleben, wie alle intensiv arbeiten, um die täglich neuen Herausforderungen dieser Pandemie zu bewältigen. Bei uns im Bundesrat gibts wirklich keine parteipolitischen Mätzchen und keine Gehässigkeiten – wir sind ein gutes Team.»
Ruth Dreifuss ist mit dem Bundesrat zufrieden. Sie hat in Genf bereits die erste Impfung erhalten. Und ist zuversichtlich, dass wieder eine Zeit ohne Masken kommt. Nun stehen beide vor Albert Ankers «Dorfschule». Das Bild zeigt Buben und Mädchen beim Unterricht, damals alles andere als selbstverständlich. Das Gemälde stammt vom Kunstmuseum Bern und nicht aus der Sammlung von alt Bundesrat Christoph Blocher. «Aber das würde mich überhaupt nicht stören», meint Dreifuss lakonisch. «Bei Anker bin ich für einmal auf Blochers Linie.» Sagts und betrachtet das grosse Plakat mit einer Forderung der Frauenbewegung aus dem Jahr 1897: «Der Mann ist nicht das Haupt der Ehe.» Erst 1988 wird dies in der Schweiz zum Gesetz.
Ein jahrzehntelanger Kampf für das Recht der Frau
Fürs Frauenstimmrecht brauchte es ebenfalls mehrere Anläufe. Als Alain Berset Ruth Dreifuss fragt, ob es nicht auch frustrierend sei zu sehen, wie lange dieser Kampf der Frauen nun schon dauert, meint sie: «Ich bin eine Optimistin. Als 1959 das Frauenstimmrecht an der Urne abgelehnt wurde, war der Ton der Plakate extrem aggressiv und erniedrigend für uns Frauen. Ich war damals 19 Jahre alt.» Und wie wenn es gestern war, erzählt sie von der «bewegten Zeit ihres Lebens», von der Zeit von 1959 bis 1971, als das Frauenstimmrecht endlich angenommen wurde: «In dieser Zeit gab es die Pille, 1968, die Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung, die Dritt-Welt-Bewegung. Neue Kleider, neue Musik. Und tatsächlich war der Abstimmungskampf 1971 ganz anders. Die Plakate waren für uns Frauen diesmal voller Blumen.»