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Schweizer Dorf des Jahres 2023

«Traditionen weitergeben ist wunderschön»

Als «Schweizer Dorf des Jahres» küren wir 2023 die Gemeinde mit der eindrücklichsten Festtradition. Diese Woche präsentieren sich die zwei Finalisten aus dem Tessin: Gannariente im Bavonatal und Acquarossa. Im Bleniotal erinnert eine Feier an die Soldaten aus Napoleons Russland-Feldzug.

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Dorf des Jahres 2023, Leontica ist fuer sein Fest Milizia storica di Leontica nominiert. Christa Rigozzi ist Botschafterin fuer das Dorf. Bild © Remo Naegeli

«Fahnenträgerin» Christa Rigozzi mit den Milizen um Ehrenpräsident Denys Gianora (l.). Fürs Foto stürzen sie sich ausserterminlich in Uniform.

Remo Naegeli
Acquarossa TI

Wie mache ich mich als Fahnenträgerin?», fragt Christa Rigozzi, 40, mit einem verschmitzten Lachen. «Grossartig. Wir würden dich sofort nehmen!», sagt Denys Gianora, Ehrenpräsident der Milizia Storica di Leontica, begeistert. Möglich wäre es. Obwohl die aktiven Milizen momentan alles Männer zwischen 11 und 77 Jahren sind – gut 40 an der Zahl –, geht das Volksfest mit der Zeit und liesse auch Frauen zu, wäre das Interesse vorhanden.

Vorerst begnügt sich Rigozzi mit der Rolle als Botschafterin für den Anlass. Dies nicht nur mit grosser Freude, sondern mit echtem Herzblut, denn ihre Wurzeln liegen in dieser Gegend: «Meine Familie stammt aus dem Bleniotal. Ich habe schon in meiner Kindheit sehr viel Zeit hier verbracht.»

Dorf des Jahres 2023, Leontica ist fuer sein Fest Milizia storica di Leontica nominiert. Bild © Remo Naegeli

Zur Milizuniform gehören neben den Bajonetten auch Säbel. Aufbewahrt werden sie im Rathaus von Leontica.

Remo Naegeli

Alter Brauch mit modernem Twist

Die Milizen aus dem knapp 70 Seelen zählenden Dörfchen Leontica, das seit 2004 politisch zur Gemeinde Acquarossa gehört, sind weit über die Grenzen des Bleniotals hinaus bekannt. So stehen sie auf der ausgesuchten Liste der «Lebendigen Traditionen in der Schweiz» des Bundesamts für Kultur und sind in ganz Europa unterwegs. Sie paradierten zum Beispiel schon in Rom im Umfeld der Schweizergarde. Nächstes Jahr werden sie am Eidgenössischen Musikfest in Zürich dabei sein. Das jährliche Highlight ist aber natürlich jeweils ihr eigenes Fest am Tag des heiligen Johannes, des Schutzpatrons des Dorfs.

«Solche uralten Traditionen weiterzugeben, das ist wunderschön», sagt Christa Rigozzi. «Und ich finde es beeindruckend, dass man es schafft, einen über 200 Jahre alten Brauch in die heutige Zeit mit einem Touch Moderne weiterzuziehen, ohne dass er das Ursprüngliche verliert.» Sie selbst habe es leider noch nie ans Fest geschafft. «Aber noch besser: Ich habe bei meinem Besuch in Leontica eine Privatvorführung erhalten!»

Dorf des Jahres 2023, Leontica ist fuer sein Fest Milizia storica di Leontica nominiert. Bild © Remo Naegeli

Leontica gehört zur Gemeinde Acquarossa.

Remo Naegeli
Milizia storica di Leontica
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kämpften 600 Soldaten aus dem Tessin in Napoleons Russland-Feldzug. Die Milizen aus dem Bleniotal gelobten dem Schutzpatron Johannes, sich jährlich zu bedanken, sollten sie lebend aus dem Krieg zurückkehren. Dieses Gelübde wird seither eingehalten. Jeweils am 24. Juni stürzen sich die Milizen von Leontica in ihre Uniformen und gedenken mit einem in der Region sehr beliebten Fest den damaligen Soldaten.
Dorf des Jahres 2023: Cavergno Val Bavona ist fuer ihre Prossesion im Val Bavona nominiert. Der Saenger Sebalter (Sebastiano Paù-Lessi) ist Botschafter fuer das Tal. Bild © Remo Naegeli

Musiker Sebalter (M.) mit Fausto Rotanzi (l.) und Remy Dalessi von der Gemeinde Cevio im Weiler Foroglio, an dem die Prozession vorbeiführt.

Remo Naegeli
Gannariente

Das Bavonatal gehöre zu seinen liebsten Naherholungsgebieten, sagt Sebalter, 38. Von seinem Wohnort Bellinzona aus beträgt die Anfahrt eine knappe Stunde. «Und schon ist man in einer atemberaubenden Umgebung mit kaum berührter Natur», so der ESC-Musiker, der mit richtigem Namen Sebastiano Paù-Lessi heisst. Im vom Maggiatal abzweigenden Bavonatal liegen lediglich eine Handvoll Weiler aus Steinhäuschen (und je einer Kirche), welche nur im Sommer bewohnt sind. Auf der einzigen asphaltierten Strasse, die sich durch das Tal zieht, marschieren die Teilnehmenden der Processione di Gannariente jeweils im Mai die nicht ganz zehn Kilometer lange Strecke von Cavergno zum Oratorio von Gannariente. Die rund vierstündige Prozession habe mittlerweile den Charakter eines gemütlichen Familienspaziergangs, sagt Remy Dalessi, Leiter des Departements Sport und Freizeit der Gemeinde Cevio, zu der das Bavonatal politisch gehört. «Die meisten treffen sich nach dem Gottesdienst in Gannariente zu einem Familienfest.»

Dorf des Jahres 2023: Cavergno Val Bavona ist fuer ihre Prossesion im Val Bavona nominiert. Der Saenger Sebalter (Sebastiano Paù-Lessi) ist Botschafter fuer das Tal. Bild © Remo Naegeli

Während des Jahres hängt das Kruzifix der Prozession im Kirchlein von Gannariente.

Remo Naegeli
Messe für 350 Menschen

Dabei ist der jahrhundertealte Brauch mittlerweile so bekannt, dass bei Weitem nicht alle Teilnehmenden im kleinen Kirchlein, wo die Messe stattfindet, Platz haben. «Wir übertragen sie mit Mikrofonen nach draussen», sagt Dalessi. «Dieses Jahr waren es 350 Menschen. Was natürlich auch daran lag, dass das Wetter gut war. Wenns regnet, sinds jeweils nicht so viele.» Trotzdem beeindruckend, wenn man bedenkt, dass die Prozession um sechs Uhr morgens beginnt. «Nicht ganz meine Zeit», meint Sebalter lachend. «Aber in dieser magischen Umgebung den Sonnenaufgang zu erleben, hat schon seinen Reiz.» Dabei würde er die Strecke wohl ohne seine dreijährige Tochter unter die Füsse nehmen: «Sie kommt gern mit zum Wandern – aber nach fünf Minuten will sie jeweils getragen werden.» Doch ist es ihm durchaus wichtig, seiner Tochter auch Traditionen mitzugeben. «Solche ursprünglichen Bräuche schaffen eine Verbundenheit mit der Heimat. Das finde ich schön.»

Dorf des Jahres 2023: Cavergno Val Bavona ist fuer ihre Prossesion im Val Bavona nominiert. Der Saenger Sebalter (Sebastiano Paù-Lessi) ist Botschafter fuer das Tal. Bild © Remo Naegeli

Die Prozession startet in Cavergno.

Remo Naegeli
Processione di Gannariente
Jeweils am ersten Sonntag im Mai startet die Prozession im Morgengrauen in Cavergno und führt knapp zehn Kilometer durchs Bavonatal zum Kirchlein von Gannariente. Angeführt wird sie von der Trägerin oder dem Träger des Kruzifixes. In jedem Weiler schliessen sich weitere Personen dem Umzug an. In Gannariente wird zum Abschluss ein Gottesdienst gehalten, bei dem die Menschen um eine reiche Ernte beten. Viele Familien setzen das Fest bei einem Essen fort.
Familienbloggerin Sandra C.
Sandra CasaliniMehr erfahren
Von Sandra Casalini am 21. Juli 2023 - 16:49 Uhr