Vergewaltigungsopfer – ein Wort, das Annina Hunziker (31) so nicht wählen würde. «Ich würde Überlebende sagen. Es ist viel schwieriger, zu sagen, ich bin ein Opfer. Zeitgleich ist es zur Einordnung wichtig, sich einzugestehen, dass ich in dieser Situation als Opfer eines Täters angesehen werde. Aber um das Stück zu zitieren: ‹Ich will kein Opfer sein, ich will eine Überlebende sein.›»
Damit spricht die Schauspielerin das Theaterstück «Prima Facie» der australischen Autorin und Anwältin Suzie Miller (61) an, das am vergangenen Samstag im Luzerner Theater Premiere feierte. Es handelt von der Anwältin Tessa, die normalerweise Männer verteidigt, die der sexualisierten Gewalt angeklagten sind. Bis sie selbst vergewaltigt wird und sich auf der anderen Seite des Rechtssystems wiederfindet.
Spielt alle Rollen selbst
Während 90 Minuten schlüpft Annina Hunziker als Tessa in dem Monologstück in die Rolle verschiedener Personen und schildert den Ablauf der Gerichtsverhandlung, den der Vergewaltigung und die Fragen der Richter, die sich erneut wie ein Dolch in das geschundene Innenleben der Protagonistin bohren. Mit jedem Stich verursachen sie mehr Durcheinander, mehr Ratlosigkeit. Die erfahrene Anwältin muss erfahren, dass es deutlich schwerer ist, die Geschehnisse einer solchen Tat in logischer, lückenloser Reihenfolge wiederzugeben, wenn man sie selbst durchlebt hat.
Dass die verschiedenen Rollen von nur einer Schauspielerin verkörpert werden, ist dabei das zentrale Element. «Meine Figur muss das Geschehene immer wieder neu erzählen, sich immer neu rechtfertigen. Sie ist allein in diesem Prozess, gleichzeitig ist es so wichtig, dass sie den Raum hat, ihre Geschichte in ihrer ganzen Fülle wiederzugeben. Es geht nicht darum, die anderen sprechen zu lassen, sondern sie. Und sind wir ehrlich – wann erhält eine Frau diesen Raum schon?»
«Im Zweifel für den Angeklagten – das ist ihre wichtigste Regel»
Für Hunziker ist «Prima Facie» ein «hochemotionales Stück», besonders als Frau, die auch ihre Erfahrungen mit dem Thema gemacht hat. «Ein Balanceakt zwischen sich öffnen wollen, aber gleichzeitig nicht zu verletzlich zu sein.» Immer mal wieder seien ihr die Tränen gekommen, sagt sie, und auch während der Aufführung seien die eigenen Emotionen nicht aussen vor geblieben.
Auf die anspruchsvolle Rolle hat sich Annina Hunziker zum einen mit feministischer Literatur, zum anderen durch Gespräche mit befreundeten Anwältinnen vorbereitet. Auch der Besuch einer Verhandlung der sexuellen Nötigung am Kantonsgericht Luzern und dem anschliessenden Gespräch mit den involvierten Richtern erwies sich als hilfreich. «Dabei haben wir viele Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten zu unserem Stück gefunden. Besonders in der Art der Argumentation, wie man mit Opfer und Täter umgeht.»
Dennoch machte sich auch Ernüchterung breit: «Im Zweifel für den Angeklagten – das ist die wichtigste Regel. Und vor allem im Fall der Vergewaltigung, ein Vier-Augen-Delikt ist zweifelsfrei ein schwer zu erreichender Wert.» Hunzikers Bild der Schweizer Rechtssprechung änderte sich nach der intensiven Vorbereitung, weil sie realisiert habe, «dass das Opfer die Beweise für die Tat liefern muss», nicht der Täter. «Ich habe auch gesehen, dass es als Richter sehr schwer ist, zu entscheiden. Es gibt nicht einfach Schwarz oder Weiss, er hat zwei Leben in der Hand. Klar ist: Unser Rechtssystem ist nicht gewappnet für Vergewaltigungsfälle. Es kann nicht sein, dass beinahe jede Frau Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht hat, aber kaum jemand einen Täter kennt.»
Wichtiger Fall in Chur
So ging auch der Vergewaltigungsfall in Chur nicht spurlos an der Schauspielerin vorbei. «Da beschäftigst du dich den ganzen Tag damit, und dann gehst du nach Hause, liest den Liveticker über den Churer Fall und denkst nur, es ist einfach überall!» Für die Opfer, so sagt Hunziker, sei es furchtbar, dass die Tat so öffentlich behandelt wurde. Dennoch: «Es ist so wichtig. Bisher fanden all diese Verhandlungen immer hinter verschlossenen Türen statt, aber nun sieht die Schweizer Bevölkerung, was wirklich vor Gericht geschieht, welche Fragen sich die Frau gefallen lassen muss, und versteht vielleicht auch, weshalb so wenige Vergewaltigungen angezeigt werden.»
«Prima Facie» unter der Regie von Rebekka David, ist bis Mitte Dezember im Luzerner Theater zu sehen.