Noch ist das Ehepaar Daniel und Anna Humbert entspannt. Ihr 17 Monate alter Bernhardiner Picasso sowieso. Die drei sind eben von daheim in Bernex GE angereist. Nun steht ihr Wohnmobil auf einem Campingplatz in Martigny VS. Morgen soll ihr grosser Tag werden! Picasso nimmt an der jährlichen Wettbewerbsausstellung der Weltunion der St. Bernhard-Clubs teil. An dieser wird der schönste Barry gekürt, diesmal im Unterwallis. Stolz zeigt Daniel Humbert (76) das Diplom der letztjährigen World Dog Show in Genf. Damals holte sich sein Picasso Du Grand St. Bernard die Auszeichnungen Best Puppy (Junghund) und World Hope Winner.
Der 78 Kilo schwere Rüde – er ist das Maskottchen vom Servette Rugby Club – ahnt nichts vom morgigen Trubel. Seelenruhig hechelnd wartet der Sohn von Rüde Obelix auf sein Znacht: 400 Gramm Trockenfutter mit ein paar Cervelatstückli. Die Nacht wird er im Mobilhome verbringen. Anna (74), eine gebürtige Luzernerin, lacht. «Er schläft bestimmt besser als wir.»
Wohlerzogene Kolosse
Tags darauf, 7.15 Uhr. Inmitten einer langen Schlange von Barrys und deren Besitzern stehen die Humberts vor dem Amphitheater von Martigny. Kein Gebell, kein Gezerre – es ist auffallend ruhig hier. Wie alle hat auch Daniel seinen mächtigen Vierbeiner an der Leine. 152 Rassehunde aus zwölf europäischen Ländern und ihre Halter sind an die weltweit wichtigste Bernhardiner-Wettbewerbsausstellung gekommen. Die längste Anreise hat eine Gruppe aus Finnland bewältigt.
Vor dem Eingang zum Ausstellungsgelände in der Arena machen zwei Tierärzte ihre Kontrolle: Hat der Hund einen Chip? Ist er gegen Tollwut geimpft? Trägt er kein verbotenes Würgehalsband? Der einzige Vierbeiner, der ab und zu bellt, ist ein kleiner Schnauzer eines Zuschauers. Gastgeber Andreas Leuzinger, Präsident des Schweizerischen St. Bernhards-Clubs Barry Swiss, eröffnet «die Olympischen Spiele für Bernhardiner». Sein Klubkollege Ivo Beccarelli stellt die vier erfahrenen Rassenrichter vor, jeder aus einem anderen Land. Jeder von ihnen arbeitet in einem separaten Ring.
In Ring 1 beurteilt Jurorin Christine Wiederkehr aus Gränichen AG Kurzhaar-Rüden, zuerst die Welpen. Eines der Kriterien, das sie von Hand überprüft: Sind die Hoden im Hodensack? Weil dies bei einem der Welpen nicht der Fall ist, lässt die Richterin das Jungtier kurz eine Runde rennen. Dann ein erneuter Griff – die Richterin lacht: «Etwas Bewegung, und schon sind die Glöggli unten.»
Die Jury schaut genau hin
10.45 Uhr, Ring 2. Picasso, begleitet von seinem Herrchen, ist an der Reihe. In der Kategorie Rüden, Langhaar, Intermediate (15–24 Monate). Richter Antonio Alenda Aracil prüft Dutzende von Kriterien: Stimmen die körperlichen Proportionen? Stimmt die Widerristhöhe (Schulterhöhe über den Vorderläufen)? Ist der Kopf massiv, imposant und ausdrucksstark? Wie ist das Gangwerk?
Plötzlich quietscht es. Der Richter hat eine Plastikmaus gedrückt. Picasso spitzt die Ohren – nun kann der Experte deren Stellung beurteilen. Zum Zmorge hat Picasso nur die Hälfte der üblichen Ration bekommen, «sonst wäre er jetzt müde», sagt Anna Humbert. Sie ist angespannt. Ihr Hund dagegen nimmt das ganze Prozedere stoisch gelassen hin.
Nach einer Viertelstunde ist die Prüfung für Picasso vorbei. Der nächste der vier Barrys seiner Kategorie wird begutachtet. Für den Untersuch der Zähne öffnet dieser erst nach mehreren Befehlen das Maul. Das gibt Abzug bei den Punkten. Hätte er es nicht aufgemacht, wäre er disqualifiziert worden.
Der 59-jährige Berner Andreas Leuzinger ist seit vier Jahren Präsident von Barry Swiss. Vor 25 Jahren, sagt er, habe die Bernhardiner-Zucht noch andere Ziele verfolgt. Stämmig mussten Barrys damals sein. Heute will man schlanke, agile und harmonische Hunde. «So haben sie weniger Probleme in Ellbogen-, Schulter- und Hüftgelenken.»
Es gibt Bernhardiner, die als Sozialhunde ausgebildet werden: für Einsätze in Pflegeheimen, Spitälern, Gefängnissen. Mit seiner Hündin Minus geht Leuzinger auf Trüffelsuche und Bergtouren. Was zeichnet das Schweizer Nationaltier aus? «Es ist treu, wachsam, willensstark. Ein guter Familienhund.»
Jazz ist die Schönste
212 Mitglieder mit 500 Bernhardinern hat Barry Swiss landesweit, darunter fünf Züchter mit regelmässigen Würfen. Wer einen Welpen mit Stammbaum will, bezahlt 2400 Franken. Die jährlichen Kosten für seine Hündin beziffert Leuzinger auf 2000 Franken. «Eine Narkose kostet dreimal mehr als bei einem Dackel.»
Kurz vor der Mittagspause verkündet Richter Alenda sein Urteil: Picasso erhält das Prädikat «Vorzüglich». Als Sieger seiner Kategorie darf er in den Ehrenring. Dort treten alle 20 Kategorienbesten an. Aus diesen erküren die Richter den Olympiasieger 2024: Es ist die Kurzhaar-Hündin Jazz Du Grand St. Bernard. Bei Tierpflegerin Cécile Loye fliessen Tränen. Ein Preisgeld gibt es nicht, auf den Wert von Jazz’ künftigen Welpen wird die Auszeichnung keinen Einfluss haben – doch das Renommee der Hündin steigt gehörig. Auch die Humberts gratulieren der Siegerin. Picasso bekommt davon nichts mit. Er döst im Schatten – es war ein strenger Tag!